Seine Stille

War ich alleine? Die dunklen grauen Wolken krochen schwerfällig vorüber. Die Luft wurde merklich kühler. Ein verirrtes Insekt schwirrte suchend an meinem Gesicht vorbei. Ich fühlte den schwachen Luftzug, verursacht von den winzigen Flügeln und sich mit der ansteigenden Windbrise vermischend. Der erste Vorbote einer stürmischen Nacht. Ich wünschte von ganzem Herzen, dass diese kleine Mücke einen sicheren Zufluchtsort finden würde. Ein Versteck, um die kommende Nacht zu überstehen, dort zu ruhen und sich am nächsten Morgen mit neuen Kräften, gen Himmel zu erheben um von droben die gereinigte, erneuerte Welt zu betrachten. Wäre ich doch diese Mücke, mit nur dem einen Problem, sich eine Bleibe zu suchen, um dort zu verharren bis sich das Unwetter gelegt hat. Doch für mich gab es keinen sicheren Ort auf dieser Welt, keine Möglichkeit mich zu verkriechen und abzuwarten. Ich kannte meinen Zeitpunkt. Und diese Tatsache ließ nur eine Möglichkeit offen, den Tod.

Ich bin nie jemand gewesen, der sich Gedanken über das Sterben machte. Ich war keiner von denen, die sich ein Leben lang auf diesen unausweichlichen Tag vorbereiteten, in stiller Hoffnung er würde niemals eintreffen. Ich verdrängte dieses Thema. Doch nun, da mir langsam bewusst wird, dass ich nicht länger als einige Stunden hatte, kamen mir die Zweifel: war es richtig wie ich meine Jahre verbrachte? Eigentlich hätte ich mit meinen 32 Jahren mehr erreichen können als nur meinen ruhigen Job in der Bibliothek eines Vorortes von Paris. Doch warum nach mehr strampeln, wenn das Aktuelle dir doch völlig genügt? Wieso Kraft und Zeit in Dinge investieren die dich sowieso nur zeitweilig befriedigen und über Kurz oder Lang doch wieder nach einer Steigerung verlangen? Darum tat ich nicht mehr als nötig war, um meinen bescheidenen Lebenswandel zu finanzieren. Tagsüber ordnete ich Bücher und Manuskripte in der besagten Bücherei und meine Abende verbrachte ich genauso zwischen Bergen von dickbäuchigen Wälzern. In der Tat stapelte sich in meiner kleinen Behausung, in der Rue de la Rouche, die Lektüre teilweise bis zu der Decke. Das kleine Appartement bestand aus zwei mittelgroßen Räumen und einem winzigen Bad. Das eine Zimmer nutzte ich als mein Büro, im anderen befand sich das Schlafzimmer und eine Kochnische, die eher einer Müllhalde ähnelte. Kein Wunder, denn wie sich Anderorts die Bücher auftürmten, türmte sich hier dreckiges Geschirr und stinkender Abfall. Oft vergingen Wochen bis ich die Muse fand dort aufzuräumen, aber wie schon erwähnt, war ich eher ein Freund des minimalen Aufwandes. Davon abgesehen, störte die Unordnung sowieso keinen. Besucht wurde ich sowieso nie, ich fand es sehr mühsam Kontakte zu pflegen. Es ist sowieso alles vergebens: Menschen kommen zusammen, Menschen gehen auseinander, am Schluss bleibt dann doch nur die Leere, die Einsamkeit und die Trauer um Vergangenes. Warum sich also die Arbeit machen um am Ende wiederholt am Anfang zu stehen.
Das Appartement selbst befand sich im Dachgeschoss einer alten, zweistöckigen Villa, inmitten des Ortes. Komplett aus festem Granit gebaut, konnte das Haus Jahrhunderte überstehen, ohne groß Schaden zu nehmen. Meine Vermieter, ein älteres Ehepaar, wohnten ursprünglich im Erdgeschoss des Gebäudes, waren aber fast das ganze Jahr über bei Ihrer Tochter in Spanien. Ab und zu riefen sie an und erkundigten sich nach dem Rechten, ich bestätigte, dass nichts Besonderes passiert sei und hatte wieder wochenlang meine Ruhe. Was sollte hier schon passieren? Das Ehepaar war nicht sehr vermögend. Davon abgesehen, wurde das Grundstück von einer knapp zwei Meter hohen Mauer umschlossen, die ihre Bewohner vor neugierigen Blicken schützte. Im Innenhof, entlang der Steinmauer, reihten sich Bäume und Sträucher an einander und bildeten ein undurchdringliches Schutzschild vor dem geschäftigen, dröhnenden Draußen. Kein Geräusch drang hierher. Weder das sinnlose Geschwätz der vorbeiziehenden Massen, noch das nervtötende Hupen vorbeifahrender Autos, störten die selige Ruhe dieser stillen Oase. Und mitten drin, in diesem Paradies aus smaragdgrünen Blättern und sanftgrauen Pflastersteinen, stand eine orangenfarbene Sitzbank. Mein Thron. Vielleicht ist es vermessen dieses schlichte Metallgerüst - zusammengehalten von einfachen Brettern, die als Sitzfläche dienten und die geschwungene Rückenlehne bildeten - als Thron zu bezeichnen, doch genau das war sie für mich. Mein Herrschersitz inmitten meines lautlosen Reiches. Ein Land beginnend an der Mauer im Norden und endend an der selbigen im Süden. Im Osten, sowie im Westen begrenzt durch den harten Fels. Was benötigte ich mehr? Das war mein Leben und ich war zufrieden. Doch wie sooft, wird einem das Glück nicht gegönnt und auch so in diesem Fall.
ER kommt wenn wir IHN rufen? ER lässt uns die freie Wahl den Vertrag zu unterzeichnen? So geschehen beim Faustus, so geschehen bei unzähligen Anderen? Doch Alles Lüge! Alles Trug! Alles Irreführung und Heuchlerei! Nie hatte einer von denen auch nur den Hauch einer eigenen Entscheidung. Sie hatten keine Chance dem Schicksal zu entfliehen. ER kommt wann ER möchte und nimmt sich wen ER braucht, ob mit oder ohne Zustimmung des Betroffenen. Es gibt keinerlei Gegenleistung, keine Angebote. Der Handel ist einseitig und der Gewinner immer derselbe. Ich weiß wovon ich rede, ER besuchte mich gestern Abend, genau an dieser Bank und nannte die verbleibende Frist: Vierundzwanzig Stunden. Mehr sagte ER nicht und verschwand unhörbar im Dunkeln der Nacht. ER nannte mir nicht seinen Namen, doch wusste ich sofort wer ER war. Ich erkannte die Wahrheit SEINES endgültigen Auftritts und somit blieb kein Raum für sinnlose Fragen und blendende Hoffnungen.
Am Morgen des folgenden Tages blieben die Medikamente unberührt. Ich ging wie gewohnt zur Arbeit und verbrachte die Zeit bis zum Nachmittag mit dem Stapeln der Folianten. Bevor es dunkel wurde, war ich wieder zu Hause, brachte das letzte Mal Ordnung in das dauerhafte Chaos meiner Behausung und beendete mein Tagebuch.

Nun, saß ich hier im Garten und erfreute mich an meinem Reich des Schweigens.
Entfernte Blitze erhellten den grabesschwarzen Himmel. Einige Momente später, folgte der rollende Donner. Der Regen setzte ein um diese schmutzige Welt sauber zu waschen.
"Bist du bereit?", fragte eine leblose Stimme hinter mir.
Ich erschrak keineswegs. "Natürlich. Lass uns gehen."
Wortlos legte ER seine bleiche Hand auf meine linke Schulter und eisige Kälte kroch schleppend meinem Herzen entgegen. Endlich war es soweit, ich lächelte schläfrig. Der edle König auf dem hohen Thron vereint sich mit seinem stillen Imperium.
Vielleicht, dachte ich benebelt, vielleicht war ich doch derjenige, der IHN rief.
Ein letztes mal schlug es in meiner tauben Brust, bevor eine immerwährende Stille folgte.

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