Geheimnisvolle Welten

"Huch...! Guten Morgen, Mama", murmelte Benjamin schlaftrunken. "Muss ich schon aufstehen?"
"Nein, mein Schatz, es ist noch finstere Nacht, du kannst weiterschlafen", antwortete seine Mutter liebevoll.
"Du hast mich erschreckt...", meinte Benjamin abwesend. Er war so müde, dass ihm das Reden schwer fiel.
"Tut mir leid, Bennino. Das war nicht meine Absicht."
"Macht nichts. Du darfst mich immer erschrecken", flüsterte er vor sich hin und schloss die Augen.
Seine Mutter streichelte ihn sanft an der Wange und lächelte traurig. "Bennino, ich habe dich lieb."
"Ich hab dich auch lieb, Mama", erwiderte Benjamin kaum hörbar und schmiegte sich an die Hand seiner Mutter.
"Morgen wird mein kleiner Junge drei Jahre alt..."
"... und bekommt viele Geschenke", beendete Benjamin mit einem glücklichen Gesicht den Satz und spann sich einen Traum voller Spielsachen.
"Sehr viele Geschenke", bestätigte die Mutter. Sie erhob sich vom Bett, küsste Benjamin auf die Stirn und wandte sich zum Gehen. "Träum was Schönes."
"Du auch."
Als sie an der Zimmertür ankam, drehte sie sich nochmals um und sah ihren schlafenden Sohn an. "Ich danke dir, Bennino. Ich danke dir für meine Errettung", flüsterte Benjamins Mutter ihre letzten Worte und schloss leise die Tür.


Eigentlich war Benjamin Grünstein ein ganz normaler zwölfjähriger Junge. Gut, sein Vater besaß etwas mehr Geld als die Eltern anderer Kinder und er lebte in einem Schloss. Doch das Schloss war eher so ein kleines Exemplar, mit nur dreiundsiebzig Zimmern und daher fast nichts Besonderes. Auch dass zu seiner Verfügung stets ein Kindermädchen, ein Butler, ein Hauslehrer und ein Chauffeur standen, war in seinen Augen ziemlich normal. Er kannte es nicht anders und verstand daher nicht, wenn die anderen Kinder in seiner neuen Klasse hinter seinem Rücken deswegen tuschelten und mit Fingern auf ihn zeigten. Es waren erst zwei Wochen seit dem Begin des Schuljahres vergangen, doch Benjamin verbrachte seine Pausen immer noch alleine. Alle machten einen großen Bogen um ihn, ganz so, als ob er eine schlimme ansteckende Krankheit hatte. Und wenn Benjamin versuchte von sich aus auf die anderen Kinde zuzugehen, stammelten die einen Kinder irgendwelche Entschuldigungen und entwanden sich fluchtartig dem Gespräch. Andere Kinder wiederum reagierten erbost, ja fast feindselig. Sie machten sich über ihn lustig oder hänselten ihn. Egal auf welche Art die Anderen reagierte, eines war eindeutig: niemand mochte irgendetwas mit Benjamin zu tun haben.
Er verbrachte schon wieder eine schlaflose Nacht damit, darüber nachzudenken warum ihn die anderen Kinder nicht mochten. Er benahm sich in der Schule genauso wie schon immer zuhause - und zu hause mochte ihn wirklich jeder. Inzwischen bereute er es, seinen Vater überredet zu haben ihn auf eine öffentliche Schule zu schicken. Nach fünf Jahren Einzelunterricht bei seinem Privatlehrer, sehnte er sich nach anderen Kindern. Doch wenn sie alle so unfair zu ihm waren, konnte er gut und gerne auf diese Gesellschaft verzichten. Sobald sein Vater von seiner Geschäftsreise zurückkommt, würde er zu ihm gehen und ihn darum bitten wieder zu hause lernen zu dürfen. Mit diesen schweren Gedanken drehte sich Benjamin in seinem großen Bett herum und sah aus dem offenen Fenster nach draußen. Vor dem Fenster hat soeben eine Wolke den Halbmond freigegeben und dieser leuchtete nun aus voller Kraft, ganz so, als ob er aus der Zeit bis die nächste Wolke ihn bedecken würde, das bestmögliche herausholen wollte. Morgen wird alles besser, dachte sich Benjamin und gähnte vor Müdigkeit. Und wenn es nicht besser wird, ist es auch egal, ich bin ja sowieso nicht mehr lange in dieser blöden Schule... Bald schlief er ein.

Benjamin wurde vom Gezwitscher der Vögel geweckt. Einen Moment lang lag er mit geschlossenen Augen da und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Plötzlich sprang er erschrocken auf und sah auf den Wecker. 07:45 stand es in roten Ziffern auf der digitalen Anzeige. "Mist", entfuhr es Benjamin und schon sprang er aus dem Bett und eilte barfuss ins Bad, an der gegenüberliegenden Seite des geräumigen Zimmers. Ich komme zu spät zum Unterricht, dachte er immer wieder und malte sich in Gedanke aus wie er inmitten der Mathestunde ins Klassenzimmer reinstürmt und die Blicke aller anwesenden Schüler auf ihn gerichtet sind. Die Jungs grinsen ihn schadenfreudig an, die Mädchen kichern und flüstern hinter vorgehaltenen Händen miteinander. Dann noch der böse Blick von Frau Obermaier, der Mathelehrerin. Sie ist auch ohne Grund immer grießgrimmig. Benjamins Zuspätkommen wird ihre Laune mit Sicherheit nicht heben.
Knapp fünf Minuten später hatte sich Benjamin gewaschen, Zähne geputzt, angezogen und ist nach draußen gerannt. Dort stand er nach Atem ringend und schaute sich verblüfft um. Entgegen der Gewohnheit stand Gerd, der Familienchauffeur nicht in der kreisrunden Einfahrt. Eigentlich wartete er jeden Morgen lässig an der schwarzen Limousine gelehnt auf Benjamin. Dann grüßte er mit einem schelmischen Grinsen und öffnete die hintere Tür, damit Benjamin einsteigen konnte. Doch heute nicht! Auch Marbella, sein Kindermädchen, hatte ihn heute nicht geweckt, etwas stimmte nicht. Er schloss die Augen und überlegte kurz. Aber natürlich, heute war Samstag. Kein Wunder, dass ihn niemand weckte und auf ihn wartete. Die Angst vor der Schule hat ihn so durcheinander gebracht, dass er heute früh seiner Gewohnheit der letzten Tage nachging ohne darüber nachzudenken. Er schimpfte sich einen Dummkopf und überlegte, was er nun mit sich anfangen sollte, wo er schon einmal wach war. Nach oben in sein Zimmer zurück wollte er auch nicht, also beschloss er einen Spaziergang durch den schlosseigenen Labyrinthgarten zu machen. Die Parkanlage befand sich am nördlichen Ende des riesigen Grundstückes und wurde früher von seiner Mutter gepflegt.
Am Eingang der Anlage, einem einst liebevoll angelegten Portal, das kunstvoll von allerlei Schlingpflanzen umrandet wurde, blieb Benjamin stehen. Inzwischen war hier alles verwildert und der Ort wirkte sehr verlasen. Er ließ seine Hände über das grüne Blattwerk gleiten und lächelte traurig. Die sanfte Berührung der Blätter erinnerte ihn an die weiche Haut seiner Mutter. Er dachte an die vielen Momente als sie ihn in die Hände nahm und tröstete. Er dachte daran wie wohl er sich bei ihr gefühlt hatte. Egal was er auch angestellt hatte, sie war stets zärtlich und verständnisvoll zu ihm, bewies unendliche Geduld und hatte immer Zeit für seine Wünsche. Doch das war lange her, fast schon wie in einem anderen Leben. In einem Leben als die Familie vollständig und sein Vater noch glücklich war. Doch an dem Tag, als Mutter verstarb, begann sich sein Vater zu verändert. Jahr ums Jahr wurde er grüblerischer und verschlossener. Er verbrachte immer weniger Zeit im Schloss, trat immer öfter Geschäftsreisen an und schob Benjamin bald gänzlich in die Hände des Kindermädchens und der anderen Angestellten. Zwischen Benjamin und ihm herrschte nie wieder so eine Herzlichkeit als es zu Lebzeiten seiner Mutter der Fall war. Oft hatte Benjamin den Eindruck, dass sein Vater nur einen kleinen Anstoß benötigte um diese störende Mauer zwischen ihnen beiden bersten zu lassen, doch auch Benjamin traute sich nicht ihm entgegen zu kommen. Sie beide hatten es verlernt ihre Gefühle zu zeigen. Es war schon sehr erstaunlich, wie schnell sich Menschen, die einmal unzertrennlich waren, wieder Fremde werden.
Ohne es zu merken, erreichte Benjamin den Brunnen in der Mitte des kleinen Parks und setzte sich auf den etwa einen Meter hohen glatten Marmorrand. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, versuchte er die schwarzen Wasserspinnen an der Oberfläche der braun-grünen Brühe zu zählen. Einst war das Wasser hier im Brunnen kristallklar, doch wie alles andere im Park verkam auch dieses kleine Bauwerk. Es hatte fast den Anschein, als wäre dieser Park das Spiegelbild der Erinnerung an seine Mutter. Je mehr Zeit verging, desto mehr verblasste die Erinnerung an seine Mutter in dieser Welt. Gleichzeitig verwilderte der Park, weil niemand mehr daran dachte ihn zu pflegen.
Sobald die Herbstferien kommen, nahm sich Benjamin fest vor, würde er sich einige Tage Zeit nehmen und mit Hilfe von Bediensteten diesem Park wieder zum alten Glanz verhelfen. Wer weiß, vielleicht könnte er sogar seinen Vater überreden ihm zur Hand zu gehen. Auf diese Weise könnten sie beide etwas Zeit miteinander verbringen und sich wieder kennen lernen. Fast so wie früher.
Mit einem leisen "Blupp!" stiegen mehrere kleine Luftblässchen an die spiegelglatte Oberfläche des Brunnenbeckens. Benjamin kniff seine Augen zusammen und suchte im undurchsichtigen Wasser angestrengt nach der Ursache. Er konnte sich gar nicht erinnern, dass es im Brunnen Fische gab.
Unerwartet kam das Wasser neben ihm in Bewegung und ein dunkles Ungeheuer, grün vor allerlei Wasserpflanzen und Algen, tauchte in einer blitzartigen Fontaine auf.
Vor Angst unfähig sich zu rühren, saß Benjamin immer noch auf dem Rand des Brunnens und starrte in die riesigen Glubschaugen des Monsters, dessen Gesicht sich nur wenige Zentimeter vor seinem eigenen befand. Der Brunnenbewohner hatte ungefähr Benjamins Größe und machte ebenso einen überraschten Eindruck.
Mehrere stumme Sekunden vergingen. Schließlich erreichte der Schrecken Benjamins Gehirn und er schrie instinktiv auf. Das Ungeheuer zuckte zusammen und tauchte blitzschnell unter. Verblüfft über diese Reaktion, vergas Benjamin sich zu halten und fiel rückwärts vom Rand des Brunnen. Zu seinen Glück war auch der kleine Platz um den Brunnen herum ebenfalls verwildert, so dass er ganz weich im hohen Graß und kleinen Büschen landete. Sofort sprang er auf und wollte losrennen. Im Haus befanden sich genug Leute, die ihm helfen würden, aber würde er es ins Haus schaffen, bevor ihn das Monster einholte? Außerdem, so wie sich das Monster gerade verhalten hatte, schien es ebenso Angst vor ihm zu haben. Neugier hielt Benjamin zurück. Er richtete sich wieder auf und sah in das Becken. Aus der dreckigen Brühe starte ihn ein Paar riesiger Augen an, in denen sich die morgendliche Sonne blendend spiegelte. Als der Besitzer der Augen sich sicher war, das Benjamin kein zweites Mal schreien würde, hob er sich ganz langsam an die Oberfläche und sagte unerwartet: "Hi!"
"Eh, hallo", erwiderte Benjamin und füllte sich etwas überrumpelt.
"Ich wollte dich nicht erschrecken", meinte das Monster mit der Stimme eines Mädchens. "Tut mir leid."
"Du, du hast mich nicht erschreckt", verteidigte sich Benjamin verlegen. Außerdem wunderte er sich über die unpassende Stimme des Ungeheuers.
Das Ungeheuermädchen schien die Verwirrung aus seinem Gesicht herauslesen zu können, denn sie sagte nur kurz: "Oh! Natürlich", und griff sich mit beiden grünbehangenen Klauen an den Hinterkopf. Sie zog eine Taucherbrille von dem Kopf und reinigte sich behelfsmäßig von allen möglichen Unterwasserpflanzen, die sich bei der Erkundungstour im Brunnen an ihr festgehangen hatten. Ein dunkelgrauer Taucheranzug bedeckte ihren ganzen Körper. Als sie auch ihre Arme vom Tang und sonstigen Pflanzen befreit hatte, kamen anstelle der einst angsteinflößenden Krallen, Menschenhände zum Vorschein. Und so stand drei Kilo Wasserpflanzen später ein ungefähr gleichaltriges Mädchen vor Benjamin.
"Ganz schön dreckig das Wasser hier", meinte sie beiläufig und schien Benjamins Verwirrung zu genießen.
Als er nicht reagierte, streckte sie die Hand aus und stellte sich vor: "Ich heiße Lisa. Und wer bist du."
Zögernd nahm Benjamin ihre Hand entgegen und nannte seinen Namen.
"Aha", entfuhr es Lisa, "Habe ich es mir doch gedacht, dass du der kleine Prinz hier auf dem Gelände bist. So wie du dich erschocken hast, kann sich nur jemand erschrecken, der blaublütig ist". Sie zwinkerte ihm wissend zu.
"Aber ich hab kein blaues Blut", versuchte Benjamin sich zu rechtfertigen.
"Ach nein?", Lisa tat erstaunt. "Und wieso lebst du dann in einem Schloss?"
"Meine Eltern haben es gekauft als ich zwei Jahre alt war", entgegnete Benjamin und ärgerte sich langsam über diese Fragen. Noch nie in seinem Leben musste er sich für irgendetwas rechtfertigen und das hier kam einem Verhör gleich. Daher wollte er den Spieß umdrehen. "Und mit wem habe ich die Ehre? Was machst du in unserem Brunnen", fragte er etwas hochmütiger als er es eigentlich vor hatte.
"Oh entschuldigen Sie, Eure Majestät", Lisa machte eine theatralische Verbeugung. "Darf ich mich vorstellen: Lisa Tucher aus dem Geschlecht der Köche. Zu ihren Diensten."
"He?"
"Ich bin die Nichte von Antje, eurer Köchin."
"Ich wusste gar nicht, dass Frau Antje eine Nichte hat", erwiderte Benjamin nur um etwas zu sagen. Eigentlich hatte er sich noch nie für das Privatleben der Angestellten interessiert.
"Überraschung!", rief Lisa aus, "Bin gestern angekommen und werde die nächsten zwölf Monate hier sein. Jetzt muss ich aber los. Wir sehen uns dann. Bis bald." Sie drehte sich mit gespielter Eleganz um und lief in Richtung des Bedienstetenhauses im hinteren Teil des Anwesens.
Oh Mann, dachte Benjamin, zwölf Monate, wenn das mal gut geht. Er beschloss genug Aufregung für einen Morgen gehabt zu haben und machte sich auf den Weg in den Speisesaal um nach dem Frühstück zu sehen.

Nachdem Benjamin ganz alleine an dem zehn Meter langem Tisch im riesigen Speisesaal gefrühstückt hatte, räumte er schnell sein Zimmer auf und setzte sich an seine Hausaufgaben. Doch egal wie sehr er versuchte sich zu konzentrieren, er kam beim Lernen einfach nicht vorwärts. Ständig schweiften sein Gedanken ab und er dachte an das Erlebnis von vorhin. Eigentlich dachte er an Lisa, gestand er sich. Also an Lisa als gute Freundin, korrigierte er seine Gedanken hastig. Nicht dass seine Gedanken auf dumme Gedanken kämen, und annähmen es wäre mehr dahinter, als nur der Wunsch nach einer unschuldigen Freundschaft. Irgendwie kam er sich blöd vor, so mit sich selber zu reden und füllte sich einwenig unwohl. Daher beschloss Benjamin das Lernen auf später zu verschieben und frische Luft zu schnappen. Er verließ das Schlossgebäude und trieb sich auf dem Gelände um das Haus der Bediensteten herum. Egal was er machte, eines seiner Augen war stets auf das Gebäude gerichtet, in stiller Hoffnung ganz zufällig Lisa wieder zu sehen. Er konnte auch zur Frau Antje gehen und nach Lisa fragen, doch dazu war er viel zu stolz. Natürlich spielte da auch Ängstlichkeit mit, doch das hätte Benjamin niemals zugegeben. Also tigerte er einige Stunden erfolglos durch das Grüne und begab sich um die Mittagszeit niedergeschlagen in den Speisesaal.

Im Speisesaal erwartete Benjamin eine seltene Überraschung. Sein Vater kehrte früher als erwartet von seiner Geschäftsreise zurück und begrüßte ihn sachlich. Er wirkte etwas distanziert - distanzierter als sonst, war ansonsten aber ungewöhnlich gutgelaunt. Einige Minuten lang erzählte er von seiner letzten Geschäftsreise und warum diese früher als erwartet zu Ende ging. Mehrere Partner sind unerwartet krank geworden und so musste das Treffen um einige Wochen verschoben werden. Also beschloss er früher heim zu kommen. Unglücklicherweise wurde in der Nähe von Japan ein Problem am Flieger festgestellt, so dass sie in Tokio landen mussten. Aus Personalmangel hätte die Reparatur des Privatjets einige Tage gedauert. So blieb der Pilot mit dem Flugzeug dort und würde sobald der Schaden behoben ist heimkommen. Der Vater hatte sich sofort ein Ticket besorgen lassen und stieg in den nächstbesten Flieger in Richtung Zuhause ein.
"Eigentlich bin ich sehr froh das Problem mit dem Flieger gehabt zu haben", sprach sein Vater heiter weiter, "denn sonst hätte ich nicht..." Er brach abrupt ab und sah auf eine Stelle hinter Benjamins Schultern. Plötzlich entdeckte Benjamin etwas wie Wärme und Freude in den Augen seines Vaters aufleuchte. Diesen Blick sah Benjamin bei seinem Vater schon lange nicht mehr. Leider galt dieser Blick nicht ihm, wie er erstarrt feststellte, als er hinter sich sah.

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