Im Keller

Das Haus in der Burggasse 36 war sehr geräumig und sehr alt. Wenn man genau hin sah, konnte man über dem Eingangsportal eine Art Familienwappen erkennen und darunter sehr blasse Schriftzeichen. Doch das Gebilde war durch die Jahre so stark verwittert, dass man nur ganz schwach erahnen konnte, dass es sich hierbei um ein von Menschenhand geschaffenes Werk handelte. Ein nicht interessierter Blick würde das Ganze als eine zufällige Ansammlung von Rissen und Verfärbungen auf dem verwitterten Stein erkennen, die kaum Interesse am Nachforschen wecken.
Die Aufzeichnungen in den städtischen Bauarchiven konnten keine nähere Auskunft über das Haus liefern. Im zweiten Weltkrieg, als die Stadt von den Alliierten bombardiert wurde, fiel der entsprechende Teil des Archivs einer Feuerbrunst zum Opfer. Auch die ehemaligen Bewohner des Hauses kehrten nach dem Ende des Krieges nicht mehr ins Gebäude zurück. Die damalige Nachbarschaft beteuerte, dass schon vor dem Ausbruch des Krieges niemand in dem Haus gewohnt hätte. Viele Mythen und Geschichten rankten sich um das kleine Anwesen am Ende der kleinen Gasse, doch diese Geschichten verschwanden mit der Zeit aus den Köpfen der Menschen. Das Haus selbst kam bald in den Besitz des Staates und wurde später einer kirchlichen Wohnungsgenossenschaft zugeteilt. Das Viertel um das Haus herum verkam zusehends und irgendwann landeten nur finanzschwache Familien in dieser Gegend. Unzählige Gesichter hatte das Haus in den letzten Jahrzehnten gesehen. Es hatte viele glückliche und ebenso viele tragische Stunden in den verschieden Menschenleben miterlebt. Doch kein Schicksal vermochte es das Haus aus seinem unruhigen Schlaf zu erwecken. Bis zum folgendem Ereignis.

Jan Jakobs und seine Familie zogen vor einigen Tagen in ihre neue Wohnung ein. Jan war schon seit fünf Jahren arbeitslos und hielt sich, seine Frau und die beiden Kinder mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Er war einer von diesen Berufstätigen gewesen, dessen Arbeitsstelle dank moderner Computer und dem Einsatz der nimmermüden Roboter weg rationalisiert wurde. Damals war er 43 Jahre alt und es war für jemandem in seinem Alter und mit seinen mageren Qualifikationen kaum möglich eine neue Arbeitsstelle zu finden. Claudia, seine Frau, ging putzen und kaufte regelmäßig für einige ältere Leute ein. Auf diese Weise trug sie ihren Teil zum Auffüllen der Familienkasse bei. Die Kinder - Klaus, dreizehn Jahre alt und Dirk, zehn Jahre alt - gingen beide zur Schule und waren ganz normale Kinder, die gerne Fahrrad fuhren und Fußball spielten.
An diesem Mittwoch kam Dirk früher als gewohnt aus der Schule nach Hause. Normalerweise hatte er mittwochs Nachmittagsunterricht, doch diesmal fielen die Schulstunden aus. Seine Eltern schienen noch beide zu arbeiten und Klaus musste wie sooft in der Schule nachsitzen. Es war ein schöner Herbsttag und Dirk beschloss sein Fahrrad aus dem Keller zu holen um damit die Zeit zu überbrücken bis seine Eltern oder Klaus Heim kamen. Also holte er aus der Wohnung den Kellerschlüssel und begab sich nach unten.
Die meisten Leute aus dem Haus schienen ebenso bei der Arbeit zu sein, denn im Treppenhaus war es ganz still. Dirk passierte die zwei Wohnungstüren im Erdgeschoss. Im Vorbeigehen fiel sein Blick auf eines der Türspione und er bildete sich ein dahinter eine Bewegung gesehen zu haben. Doch ohne weiter darüber nachzudenken setzte er seinen Weg fort.
Nur wenige Stufen weiter stand er vor der Kellertür. Die Luft roch abgestanden und modrig. Man spürte hier unten das Alter des Hauses viel deutlicher, als dies in den oberen Stockwerken der Fall war. Das Tageslicht drang nur ganz spärlich hierher und die Lampe im Treppenhaus schien kaputt zu sein. Nach einigen Versuchen gelang es Dirk den Schlüssel in das Schlüsselloch zu bekommen und er drehte ihn mit seiner ganzen Kraft um. Dann drückte er die kalte ausladende Türklinke herunter und schob die Tür auf.
Als allererstes tastete er mit seiner linken Hand nach einem Lichtschalter. Vor einigen Tagen half er seinem Vater beim Heruntertragen einiger Kartons und wusste daher, wo er nach dem Schalter suchen musste. Mehrere nackte Neonröhren erleuchteten zögernd den unverputzten Gang. Erst flackerten sie unwillig, doch einige Momente später stabilisierten sie sich und summten leise vor sich hin. Soweit sich Dirk erinnerte, lag ihr Kellerabteil irgendwo ganz hinten. Er lief los und und blickte beim Passieren der Abteile durch die holzernen Gitter hindurch. Dirk hielt nach seinem roten Fahrrad Ausschau. An der vorletzten Tür hielt er an. Genau dies war das zur ihrer Wohnung gehörende Abteil. Geschickt öffnete er das kleine Schloss und trat hinein. Sein rotes Fahrrad stand in der Mitte des kleines Raumes an einen Stapel Umzugkartons gelehnt. Mit einem Glitzern in den Augen schritt Dirk auf das Fahrrad zu und ergriff es am Lenkrad. Seine Hände zitterten vor Vorfreude auf den Spaß, den er draußen auf der Straße vor dem Haus haben würde. Er war so darin vertieft sein Gefährt rückwärts aus dem kleinen Labyrinth bestehend aus allerlei Umzugsgegenständen zu bugsieren, dass er gar nicht den Schatten bemerkte, der plötzlich hinter ihm im Gang auftauchte.

Gleich nach dem Nachsitzen eilte Klaus nach Hause. Eigentlich hätte er sich viel lieber herumgetrieben und mit seinen Freuden gespielt. Doch nach dem Umzug wohnten seine alten Freunde nun am anderen Ende der Stadt und er war noch noch nicht lange genug an der neuen Schule um dort wieder Freunde zu finden. Außerdem wusste er, dass seine Eltern heute beide bis zum Abend unterwegs waren und einen besonderen Wert darauf legten, dass er in ihrer Abwesenheit auf seinen kleinen Bruder aufpasste. Er wäre schon vor zwei Stunden zusammen mit seinem Bruder nach Hause gegangen, doch das ungeplante Nachsitzen kam dazwischen. Eines hatte die neue und die alte Schule gemeinsam, stellte er grimmig fest: in beiden waren die Lehrer sehr empfindlich was kleine Streiche angeht.
Als er die Wohnung betrat, war Klaus in Gedanken immer noch damit beschäftigt einen Plan zu schmieden, wie er seinen kleinen Bruder "überreden" konnte den Eltern nicht zu verraten, dass er, Klaus, heute erneut nachsitzen musste. Klaus rief nach seinem Bruder, doch erbekam keine Antwort. Ein schneller Gang durch die kleine Wohnung verschaffte Gewissheit, dass sein kleiner Bruder sich weder mit Kopfhörern vor dem Computer verkrochen hatte, noch eingenickt war. Wahrscheinlich spielt Dirk draußen hinter dem Haus, versuchte Klaus das aufkeimende ungute Gefühl zu verdrängen und wollte die Wohnung verlassen. An der Tür viel ihm auf, dass im winzigen Hängeschränkchen, der der ganzen Familie zur Aufbewahrung von Schlüsseln diente, der Schlüssel zum Keller fehlte. Möglicherweise hatten seine Eltern ihn mitgenommen, doch bei diesem Wetter war es auch Dirk zuzutrauen, sein geliebtes Fahrrad selbständig aus dem Keller holen zu wollen. Klaus rannte erst aus dem Haus in den Hinterhof. Doch dort war es vollkommen leer. Auch draußen auf der Straße vor dem Haus fand er keine Menschenseele. Er rannte die Straße in beiden Richtungen ab und rief dabei den Namen seines Bruders. Doch weder Dirk, noch sein Fahrrad waren zu sehen. Als nächste beschloss Klaus im Keller nachzusehen.
Zu seiner Verwunderung stand die Tür zu den Kellerbereichen weit offen und im Gang dahinter brannte Licht.
"Dirk!", rief Klaus vorsichtig in den langen Gang. Keine Antwort. Klaus ging weiter und hielt genau auf ihr Kellerabteil zu. Auch hier stand die Tür offen. Und auch hier war Dirk nicht zu finden.
Nun wurde Klaus richtig unruhig. Alles, hier deutete darauf hin, dass etwas passiert war. Er konnte sich noch nicht erklären was, doch etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Was sollte er als nächstes tun? Sein Eltern würden demnächst kommen. Doch konnte er solange warten? Was ist wenn Dirk etwas schlimmes zugestoßen war und er auf der Stelle Hilfe benötigte. Die Polizei zu rufen war das einzig richtige in solch einer Situation beschloss Klaus und machte sich auf den Weg zurück in sie Wohnung um das dortige Telefon zu benutzen.
Als er hastig der langen Kellergang entlang lief, streifte sein Blick zufällig eine undefinierbare Unregelmäßigkeit an der Wand links von sich. Er blieb stehen und sah sich die betroffene Stelle genauer an.

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