Ich liebe dich, mach weiter

15:30 Uhr. Er kam früher als sonst von der Arbeit nach Hause. Es kam nicht oft vor, doch morgen war ein Feiertag und der Chef machte seinen Angestellten auf diese Weise ein kleines Präsent. Er schaute sich im Wohnzimmer um und lächelte über das Chaos: Pullover, Hosen und andere Kleidungsstücke lagen im ganzen Zimmer verteilt. Eine Socke und ein Büstenhalter lagen auf dem Esstisch. Es war alles so, wie sie es gestern abends verlassen hatten, als sie sich nach dem leidenschaftlichen Lieben ins Bett begaben.
Sie war noch in der Firma, so beschloss er während des Wartens, etwas Ordnung zu schaffen. Er sammelte die Kleidungsstücke vom Boden und brachte diese zum Wäschekorb.
Auf dem Rückweg ins Wohnzimmer sah er plötzlich einen zusammengefalteten Zettel auf dem Parkett liegen. Als er vorhin heim kam, lag dieser noch nicht da. Möglicherweise ist er aus einer der Hosen, die er gerade in das Bad trug, heraus gefallen. Er hob den Zettel auf, überlegte kurz und faltete ihn auseinander. Natürlich konnte dieser Zettel ihr gehören, er wollte auch nicht in ihre Privatsphäre eindringen, unter Umständen war es auch seiner, mit wichtigen Information, unbewusst draufgekritzelt und dann doch vergessen.
Ich liebe dich, mach weiter, stand es auf dem kleinen Blatt Papier in roter Tinte. Er betrachtete die fließende Schrift und stellte alarmiert fest, dass es sich hierbei nicht um ihre Handschrift handelte. Der Inhalt ergab keinen Sinn. Auf einmal loderte Eifersucht in ihm auf, könnte es einen anderen Mann im ihrem Leben geben? Er schritt unruhig hin und her. In seinem Kopf bildeten sich die abstrusesten Szenarien aus ihrem möglichen "parallelen" Liebesleben. Er steigerte sich so sehr in den schmerzvollen Gedanken "sie könne einen Anderen haben", dass er alles um sich herum vergaß.
Das Klingeln des Telefons holte ihn abrupt zurück in die Wirklichkeit. Er hoffte: sie wäre dran und erzählte ihm sie müsse heute länger im Büro bleiben und Überstunden schieben. Denn zweifelsohne würde sie sich dann mit dem Anderen treffen und er konnte die Beiden auf frischer Tat ertappen. Er hob den Hörer und meldete sich. Vergebens bemühte er sich seine Aufregung zu verbergen.
Eine angenehme Damenstimme begrüßte ihn und fragte nach seinem Namen.
Er bestätigte ihr er wäre der nach dem sie suche.
Sie bat ihn sofort in die Notaufnahme des städtischen Krankenhauses zu kommen. Es gehe um seine Frau.
Die Sorge traf ihn wie ein Schlag. Ohne zu antworten ließ er den Hörer auf die Ablage knallen, griff nach dem Autoschlüssel und rannte aus der Wohnung.

Langsam schritt er durch den langen, hell beleuchteten Gang. Überall schwirrten Ärzte in Weiß und Pfleger in Blau. Ihre Stimmen waren verzehrt. Er kam sich vor wie in einem Traum. Er blickte umher, nahm aber die gesichtslosen Wartenden kaum wahr. Der Weg schein endlos.
Irgendwann gelangte er zum Ausgang. Die frische kalte Luft erweckte ihn aus seinem schockähnlichem Zustand. Ihm wurde übel. Er würgte und erbrach sich in die grünen Büsche, die den Weg zu der Notaufnahme säumten. Abwehrend, helfende Hände von sich stoßend, torkelte er weiter und kam nun endlich an seinem Auto an.
"Sie ist tot", hämmerte es an seinen Schläfen, als er sich auf dem Fahrersitz niederließ und den Kopf auf dem Lenkrad abstützte. "Sie ist nicht mehr da! Und wird nie wieder kommen", sickerte die Erkenntnis langsam zu ihm durch. "Ein Lastzug überholte sie auf dem Heimweg, musste aber dem Gegenverkehr ausweichen, drängte sie ab und der tonnenschwere Anhänger rollte mit voller Wucht über das Auto", hatte der Arzt gesagt "Sie musste nicht leiden."
Dies sollte ihn beruhigen. Doch er dachte an seine Verdächtigungen und kam sich schmutzig vor. Er wollte sich entschuldigen, doch dies war nicht mehr möglich. Er dachte an all die ungesagten Dinge, die er jetzt nicht mehr nachholen konnte. Er wünschte sich, er hätte mehr mit ihr geredet, sich mehr um sie gekümmert, ihr alle Wünsche von den Augen abgelesen. Doch nun war es zu spät. Er konnte nicht glauben das alles vorbei sein sollte. Es war so grenzenlos schwer zu begreifen. Er fühlte sich unendlich einsam und verlassen. Wie sollte das Leben ohne sie weitergehen? Gab es ein Leben ohne sie? Warum war nicht er an ihrer Stelle gestorben?
Warme Tränen liefen ihm über die Wangen und stauten sich salzig an seinen Lippen. Endlich konnte er weinen. Wellen des inneren Schmerzes durchzuckten seinen zusammengekauerten Körper und wollten nicht aufhören.
Die Zeit verging.
Irgendwann fühlte er sich ausgetrocknet und konnte nur noch schluchzen. Ein leises Klopfen an der Seitenscheibe ließ ihn zusammenfahren. Ein älterer Mann stand draußen, blickte besorgt auf das gerötete Gesicht und fragte ob alles in Ordnung war. Er nickte und der Mann ging zaghaft weiter. Wie lange war er schon hier. Er schaute auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass er vor über einer Stunde das Krankenhaus verlassen hatte. Ihm fiel plötzlich auf dass er gar nicht seine, sondern ihre Armbanduhr anhatte. Wahrscheinlich hatte er heute früh im Halbschlaf die falsche Uhr vom Nachttisch mitgenommen. Er betrachtete nachdenklich das schlanke silberne Armband der Damenuhr und seufzte schwermütig. Seine Augen brannten vom Weinen. Er holte ein Taschentuch aus dem Handschuhfach und wischte sich damit die Tränen fort.
Als er das Taschentuch niederlegte, stelle er erschrocken fest, dass dieses an den Stellen wo es seine Augen berührte, schwarze Flecken aufwies. Hastig drehte er den Mittelspiegel zu sich und sah hinein. Der Atem stockte ihm und er erschauderte. Aus dem Spiegelausschnitt blickte ihn ein, mit schwarzer Wimperntusche verschmiertes, trauerndes Frauengesicht an. Ihr Gesicht. Ihre Augen blickten in die seinen und er erkannte den frischen Schmerz in ihnen. Verwirrt schaute er sich um. Es war nicht sein Auto. Es war ihres. Der weiße Lack auf der Motorhaube bestätigte dieses. Sein Auto war blau. Auf einmal dachte er an den Zettel den er - oder sie - vor Stunden vom Boden des Flurs aufhob. Er griff hastig in die Hosentasche und holte das zerknüllte Stück Papier heraus. Als er es glattstrich, lass er erneut die eigenartige Botschaft: "Ich liebe dich, mach weiter."
Er betrachtete die Handschrift genauer und stellte fest, dass es seine eigene war. Auf einmal erinnerte er sich.
Gleichzeitig begann die Welt zu flimmern. Menschen, Bäume und Gebäude um ihn herum verwandelten sich langsam zu bunten Rauchschwaden und stoben gemächlich auseinander. Die Farben vor seinen Augen wurden immer blasser. Und bevor der letzte Kolorit aus seinem Blick verschwand, dachte er an die Abschlussworte des Arztes: "Der Unfall passierte gegen 15:30 Uhr."
Er schmunzelte, verließ ihren Körper - seinen Geist trieb in das gleißende Licht. Diesmal ohne Widerstand, den nun wusste er, dass alles wieder gut wird.

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