Natürliche Feinde

Hallo, mein Name ist Viktor. Viktor Corben. Darf ich mich zu Ihnen setzen?
Es tut mir leid Sie belästigen zu müssen aber ich habe leider keine andere Möglichkeit. Ich werde verfolgt. Sie sind schon seit Tagen hinter mir her. Ich kann mich nirgendwo mehr verstecken. Ich bin müde, ich kann nicht mehr. Sollen sie mich holen, es ist mir egal. Ich möchte nur schlafen. Endlich mal wieder ruhig schlafen. Traumlos und friedlich. Einfach nur schlafen.
Bald ist es soweit, doch davor muss ich mit jemandem reden. Mein Wissen darf nicht mit mir sterben. Es könnte die Welt retten. Oder auch zerstören. Doch dies zu entscheiden liegt nicht in meiner Macht. Ich muss nur die Geschichte am Leben erhalten. Sie weitergeben. Die Information darf nicht mit mir verschwinden. Bitte helfen Sie mir. Sie sind die letzte Hoffnung der Menschheit.
Ich spüre Ihr zögern. Doch glauben Sie mir, ich bin nicht verrückt. Sehen Sie sich meine Wunden an. Schauen diese Verletzungen aus, als ob sie von Menschenhand zugefügt wurden? Ich bin Doktor der Biologie. Schwerpunkt Arachnologie. Promoviert an der Universität Berlin.
Sie nicken? Danke für Ihr Vertrauen. Doch nun muss ich schnell machen - die Sonne geht bald unter. Wir haben nicht mehr viel Zeit.
Bedienung! Bitte noch zwei Mal von dem, was der Herr hier trinkt.
Es begann vor sechs Tagen. Ich war in Peru, in der Nähe von Moyobamba und katalogisierte zwei neue Spinnenarten in einem schwer zugänglichem Teil des Amazonas. Erik, mein Doktorand, war bei mir. Er kümmerte sich um die alltäglichen Dinge und hielt mir die verdammten Schlangen vom Leib.
An diesem Abend waren wir auf dem Rückweg zu unserem Lager, als plötzlich ein Hubschrauber über uns hinweg flog. Die dichte Vegetation versperrte mir die Sicht auf die Maschine, doch die eingeschlagene Richtung war eindeutig unser Lager.
Eigentlich sollten wir erst in drei Tagen abgeholt werden. Vielleicht war etwas wichtiges passiert. Möglicherweise wurden Rebellenaktivitäten in der nahen Umgebung gesichtet. Wir waren seit fast zwei Wochen hier und informationstechnisch von der Aussenwelt komplett abgeschnitten.
Als wir auf der Lichtung mit unserem Lager ankamen, wurde wir dort schon erwartet. Doch es war nicht Paolo mit seiner alten klapprigen Westland Seaking, wie ich anfangs annahm. Vor dem Hintergrund einer topmodernen nachtschwarzen Maschine wurde ich von einem gepflegten Hünen im Armani begrüsst.
"Doktor Corben?" fragte er mich und streckte mir zum Gruß seine manikürte Hand entgegen.
"Ja", antwortete ich, "und mit wem habe ich das Vergnügen?"
"Mein Name ist Ritter", sein Handdruck war fest und sicher. Ein Mann, der immer das bekam, was er wollte.
"Ich bin der Sicherheitsbeauftragte bei Irving", fuhr er fort und deutete auf das Logo auf der Kanzel des Hubschraubers hinter ihm.: ein weißes 'I' auf einem grünen Kreis. Natürlich, daher kam mir das Zeichen so bekannt vor. Irving AG war einer der weltweit größten Hersteller von Pharmazeutika mit dem Hauptsitz in Deutschland. Ich kannte das Unternehmen aus den Medien, konnte mich aber beim Besten Willen nicht an einen persönlichen Kontakt in der Vergangenheit erinnern.
"Wie kann ich Ihnen helfen?" fragte ich ohne Umschweife.
"Wir benötigen Ihr Fachwissen", war seine knappe Antwort.
"Und worum genau geht es?" entgegnete ich lustlos. Vielleicht etwas zu provokativ, denn ein kurzer Anflug von Ärger huschte über das Gesicht meines Gesprächspartners. Doch mir war es egal. Gespräche, bei denen ich dem Anderen alles aus der Nase ziehen muss, langweilen mich recht schnell. Vor allem wenn ich um Hilfe gebeten werde, mag ich diese unnötige Geheimniskrämerei nicht.
"Sie wurden uns als Ansprechpartner zum Thema Arachnoide Völker empfohlen. Ich bin leider nicht befugt mehr zu sagen. Nur, dass es wirklich dringend ist."
Doch mehr zu sagen war auch nicht nötig, die Typen kannten meine Leidenschaft.

Der Hubschrauber brachte uns augenblicklich nach Piura. Von dort aus stiegen wir noch in der selben Stunde mit einem Firmenjet in die Lüfte und ließen Peru hinter uns. Wir hatten nicht einmal Zeit unser Lager abzubauen, dies wollten die Leute von Irving übernehmen. Auch für unsere Sachen im Hotel wurde auf die gleiche Art und Weise gesorgt. Mir war es recht. Ich nehme nie mehr an persönlichen Dingen mit, als ich bei mir am Körper aufbewahren kann. Alles andere ist beliebig ersetzbar.
Trotz meiner Aufregung schlief ich ein. Ich hätte es der Monotonie der Triebwerke oder der weichen Polsterung der Sitze zugeschrieben, doch im Nachhinein wusste ich es besser. Ja, im Nachhinein weiß man so einiges besser.

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