Er sollte fliegen

Gunter schlief wie immer auf der linken Seite und mit dem Rücken zur Wand. Von Zeit zur Zeit murmelte er Unverständliches vor sich hin, heulte jaulend auf und kratzte sich gewohnheitsgemäß an der rechten Hinterbacke. Dann kam das genüssliche Schmatzen und schon fand der rechte Daumen im Mund des Schlaffenden Platz. Kaum dass die saugende Wirkung der Lippen nachließ, platschte die Hand weich auf den dreckübersäten Boden neben dem Bett und verharrte ruhig bis zum nächsten Hinterbackenkratzer.
Eigentlich war Gunter ein sehr netter Mensch. Er war freundlich zu Hunden und Katzen, wartete geduldig an der Roten Ampel und teilte gerne seine Schokolade auch mit unbekannten Menschen. Das heißt, er würde seine Schokolade mit diesen unbekannten Menschen teilen, wenn diese unbekannten Menschen nicht ständig vor ihm wegliefen. Er verstand nicht ganz was die anderen gegen ihn hatten. Er war höflich und freundlich, zuvorkommend und hilfsbereit. Wieso wurde er stets wie ein Außenseiter behandelt? Er war doch genauso wie die restlichen Leute hier in Siegenheim.
Auch er wohnte in einem Haus. Zugegeben, dem Haus fehlten einige Mauern und das Dach war größtenteils eingestürzt, doch das Gebäude war immer noch eindeutig als Haus zu erkennen - wenigstens von der einen Seite. Weiterhin besaß Gunter Kleider, Möbel und die ganzen anderen Gegenstände, die man zum Leben brauchte - wie jeder gewöhnliche Mensch. Gut, seine Kleider waren alt und stammen genauso wie das Meiste seines Besitzes von verschiedenen Sperrmüllbesuchen. Doch - an dieser Stelle lobte sich Gunter unermüdlich - auch wenn die Kleider alt und löcherig waren, er pflegte diese ordentlich und wusch sie gewissenhaft. Jedes Mal wenn er badete. Mit den angezogenen Kleidern versteht sich - denn so wurden die Kleidungsstücke schneller sauber und trockneten auch viel besser. Diszipliniert und fleißig tat er das, jeden Monat an seinem Waschtag. Im Bächlein, hinter seinem Haus. Von Anfang Frühling bis Ende Herbst nur und natürlich nicht im Winter, da war es schließlich viel zu kalt um draußen zu baden. Daher tat Gunter das, was jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand an seiner Stelle getan hätte: er wartete bis die Sonne wieder kam und es warm genug wurde um baden zu gehen. Auch wenn es mal Monate dauerte. Alles zu seiner Zeit, pflegte sein Großvater oft zu sagen. Und nach dieser Weißheit, führte Gunter sein Leben.
Nach einem langen und ungewöhnlich kalten Winter stand nun so ein Wasch- und Badetag an. Die Sonne schien an diesem herrlichen Tag, die Vögel kehrten aus dem Süden zurück und bauten fröhlich ihre Nester. Ja, dieser Tag war ein gelungener Frühlingsanfang, dachte Gunter, der nun wach war und sich auf den Tag freute.
Wenn er gewusst hätte, was heute so alles geschehen würde, wäre er mit Sicherheit in seinem Bett geblieben. Doch leider konnte er nicht hellsehen, saß deswegen schlaftrunken auf der Bettkante und rieb sich gähnend die verträumten Augen.

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