Das dunkle Vermächtnis
Prolog"Was soll ich nun antworten? Natürlich war ich dort. Ich sagte doch schon, er hatte mich eingeladen." Ich war es leid, mich immer wieder aufs Neue zu wiederholen und drehte meine Augen demonstrativ zu Seite.
Doch der Kommissar ließ nicht locker: "Oui, natürlich, das sagten Sie, Monsieur Berneau. Aber der Hotelpage sah keine andere Person außer Ihnen diese Suite betreten. Es gibt auch keine Spuren von einem Einbruch, alle Fenster sind fest verschlossen und unversehrt. Also, wer sollte Ihrer Meinung nach diese schreckliche Tat begangen haben?"
Nun war es wirklich genug! Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet, dass die Befragung nun schon über eine Stunde dauerte. "Es reicht. Bitte stellen Sie mir einen Anwalt - ohne diesen werde ich kein weiteres Wort mehr sagen", entgegnete ich und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass für mich das Verhör beendet war.
"Abführen!", der Ermittler schnippte entnervt mit seinen Fingern und zwei Gendarme, die sich scheinbar im Nebenraum, welcher getrennt durch einen großen Spiegel diesseits, aufhielten, traten ein.
Beidseitig flankiert marschierte ich wieder in Richtung Zelle, die mich bereits die Stunden zuvor beherbergte.
Als ich endlich wieder alleine war, ließ ich mich auf die hölzerne Sitzbank sinken und meinen müden Blick durch den leeren dunklen Raum streifen. Ich war noch immer fassungslos und konnte - ja wollte - das heute Geschehene nicht begreifen. Mein Professor von der Universität, mein Mento rund mein bester Freund aus den Studiertagen, war nicht mehr am Leben. Und ich war der Hauptverdächtige. Wie konnte es soweit kommen? Dabei hatte unser erster Kontakt seit bald vier Jahren doch so viel versprechend begonnen...
Einen Tag zuvor, Lyon
Ich saß wie immer um die Mittagszeit, in meinem Büro und ging die schriftlichen Beschwerden unserer Studenten durch. Zugegeben, ich war mit meinen neunundzwanzig Jahren ein recht junger Dekan an der Universität von Lyon, doch ich machte meinen Job gut und pflegte als Vertreter der Studentenschaft ausgezeichnete Kontakte, sowohl zu den Studenten, als auch zu den Pädagogen dieser Einrichtung. Was natürlich unzählige Vorteile mit sich brachte.
Kaum öffnete ich den Pappdeckel meines, inzwischen kalten, Nudelgerichtes als das Telefon klingelte.
"Berneau hier! Ich hoffe es ist wichtig!", ich hasste es beim Essen gestört zu werden.
"Hallo. Hier ist die Vermittlung.", eine eingeschüchterte Frauenstimme drang aus dem Hörer. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: "Entschuldigen Sie die Störung, Monsieur Berneau, aber ein gewisser Professor Labornier ist in der Leitung und besteht drauf Sie zu sprechen. Ich sag..."
"Professor Labornier?", meine Laune wurde schlagartig besser. "Dann her mit ihm!", rief ich ungeduldig und fügte ein versöhnliches: "Tut mir leid wegen meiner schroffen Art von eben", hinzu.
"Kein Problem, Monsieur Berneau. Einen schönen Tag noch", sie klang schon viel entspannter.
Ein leises Klicken in der Leitung verriet mir das die Verbindung stand.
"Guten Tag Pierre", eine mir wohlbekannte ernste Stimme begrüßte mich.
"Professor!", ich war außer mir vor Freude, "Wie lange ist es schon her, drei, vier Jahre? Ich freue mich von Ihnen zu hören. Wie geht es Ihnen? Wie geht es Edith? Wo waren sie die letzten Jahre?"
Die Fragen sprudelten nur so aus mir heraus. Kein Wunder, Professor Doktor Erich Labornier war während meiner Studienzeit fünf Jahre lang mein Protege gewesen. Er war zwar über dreizig Jahre älter als ich, doch baute sich durch die gleichen Interessen und die gemeinsamen Forschungsprojekte eine enge Freundschaft zwischen uns beiden auf. Und dann war da noch Edith, seine Tochter. Wir waren sechs Monate ein Paar, die wahrscheinlich schönsten sechs Monate in meinem Leben. Doch plötzlich verschwand der Professor - und Edith mit ihm. Kein Abschiedsbrief, keine Erklärung, nur offene Fragen. Bei der Universitätsleitung erfuhr ich, dass Labornier sich kurzfristig auf unbestimmte Zeit beurlauben ließ. Im Anschluss dieser Ruhezeit wollte er an eine andere Universität versetzt werden. Doch kam dieser Antrag nie zur seinem Vollzug. Ich telefonierte unzählige Universitäten und Hochschulen in ganz Frankreich ab. Ich fuhr monatelang, jede Woche ins Polizeipräsidium um mich vor Ort über die Ergebnisse zu informieren und um die Ermittlungen auf Trapp zu halten. Doch die ganze Zeit über, wurde nicht einmal die kleinste Spur der beiden gefunden. Die Suche wurde nach zwölf Monaten ergebnislos ad acta gelegt.
Nach all den Jahren hatte ich nun Erich in der Leitung und war verständlicherweise sehr aufgeregt.
"So viele Fragen, mein Freund", hörte ich seine rauhe Stimme, "Ich denke ich schulde...", ein Hustanfall zwang ihn zu einer kurzen Pause. "Ich denke ich schulde Ihnen einige Antworten. Doch es ist unpassend am Telefon darüber zu reden. Ich bin in Toulon. Kommen Sie so schnell wie möglich hierher. Dann stehe ich Ihnen gerne Rede und Antwort." Ein weiterer Hustanfall ließ ihn wiederholt innehalten.
Immer noch das alte Leiden, dachte ich mir. Wie oft schon bekam der Professor den Rat mit dem Rauchen aufzuhören, doch wie es schien, war die Sucht weitaus stärker als die Angst vor seiner chronischen Asthmaerkrankung.
"Ist Edith bei Ihnen?", ich dachte immer noch sehr oft an sie.
Stille am anderen Ende der Leitung. Sekunden vergingen.
"Natürlich", bekam ich zögernd die erhoffte Antwort. "Wann können Sie hier sein?"
Ich überschlug kurz die anstehenden Tage. Heute war Donnerstag und das bevorstehende Wochenende hielt keinerlei Pflichten bereit, die ich nicht verschieben konnte. Obwohl ich das Wiedersehen nicht erwarten konnte, musste ich morgen früh leider noch an einer wichtigen Konferenz teilnehmen.
"Ich werde morgen Mittag bei Ihnen sein. Wo finde ich Sie?"
"Ich bin im Hotel Deux Oiseau. Sie finden die genaue Adresse an jeder Informationstafel der Stadt. Fragen Sie dort nach mir."
Ich notierte mir den Namen des Hotels auf der unbenutzten Serviette, die meinem Fertiggericht beilag.
"Nun muss ich aber aufhören", der Professor schien nervös zu sein. "Ich freue mich auf Morgen. Salut", waren seine letzten Worte.
Noch bevor ich antworten konnte legte er auf.
Ich ließ mich sofort mit dem Flughafen verbinden und reservierte unter meinem Namen eine Bordkarte nach Toulon.
Aufgeregt packte ich abends meinen Rucksack für den kommenden kurzen Wochenendausflug.
Sofort nach der Besprechung am Morgen des drauffolgenden Tages entschuldigte ich mich im Namen einer familiären Sache, verließ auf dem schnellsten Weg die Universität und nahm ein Taxi zum Flughafen.
Gegenwart, Toulon
Das Kratzen von Metall auf Metall ließ mich erschrocken auffahren. Ich schaute mich um und stellte fest, dass ich nicht geträumt hatte: ich war immer noch ein Gefangener der Polizei von Toulon. Schritte näherten sich. Ein Gendarm ging den leeren Gang entlang und blieb vor meiner Zelle stehen. Als er das Zellenschloss öffnete und das schwere Eisentor beiseite schob, wiederholte sich der metallische Laut von vorhin. Ich erhob mich von meiner Pritsche, wie es schien, war ich heute Nacht doch noch vor Müdigkeit eingeschlafen. Draußen war es schon hell. Ich schaute auf mein Handgelenk, der Stundenzeiger der Armbanduhr zeigte auf die Acht.
"Folgen sie mir.", verlangte der Gendarm.
Ich folgte ihm ohne Widerrede aus dem Zellentrakt.
Im Büro erfuhr ich, dass man jemand für mich Kaution hinterlegt hatte. Ich könnte gehen, müsse aber die nächsten Tage in der Stadt verbleiben und für die Polizei immer erreichbar sein. Auf meine Frage, wer denn die Kaution hinterlassen hatte, konnten mir die Beamten keine Antwort geben. Ich gab an, im selben Hotel wie der Professor abzusteigen und hinterließ meine Handynummer. An der Pforte holte ich meinen Rucksack und verließ das beklemmende Gebäude. Ein Spaziergang würde mir gut tun und mir Zeit zum Nachdenken verschaffen, also begab ich mich zu Fuß zum Hotel.
Einen Tag zuvor
Gegen 15:30 stand ich endlich am Flughafen von Toulon und betrachtete eine kunstvoll gestaltete Karte der Innenstadt auf der Suche nach dem betreffenden Hotel. Zu meinem Glück lag das Gebäude nur einige hundert Meter von dem Flughafengelände entfernt, so dass ich nur wenige Minuten später in die Empfangshalle des Hauses eintrat.
An der Information erkundigte ich mich nach Professor Labornier und nahm den Fahrstuhl ins zweite Stockwerk - Zimmernummer 204. Oben angekommen begegnete ich kurz vor Laborniers Suite einem vorbei eilenden Pagen. Dieser nickte mir eifrig zu und setzte seinen geschäftigen Weg fort.
Bevor ich anklopfte, atmete ich mehrmals tief durch um mich zu entspannen, prüfte den korrekte Sitz meiner Kleidung und versuchte mit Hilfe meines schwachen Spiegelbildes an der glänzend lackierten Zimmertür, meine zerzauste Frisur in Ordnung zu bringen. Ich wusste nicht was mich hinter dieser Tür erwartete, doch wollte ich auf Edith unter allen Umständen einen ansprechenden Eindruck machen.
Als ich mein Äußeres für tadellos befunden hatte, sammelte ich mich in Erwartung eines frohen Wiedersehens und klopfte an die Tür.
Ich wartete einige Sekunden, doch niemand machte auf. Ich klopfte noch mal, diesmal etwas lauter und lauschte angestrengt auf Geräusche im Raum dahinter. Doch alles blieb still. Obwohl die Empfangsdame behauptete der Professor sei in seiner Suite, war offensichtlich niemand da. Wahrscheinlich sind die beiden ausgegangen und wurden beim Verlassen des Hotels nicht bemerkt. Ich hätte nach meiner Ankunft im Hotel anrufen sollen, um mich anzukündigen, doch ich wollte einen kleinen Überraschungseffekt erzielen und kam daher sofort hierher.
Ich beschloss, in der Lobby zu warten, drückte aber zum Abschied - und aus alter Gewohnheit - die Türklinke runter. Die Tür war nicht verschlossen und schwang einen Spalt weit auf. Ich blickte verstohlen nach beiden Seiten des mit weichen roten Teppichen ausgelegten Hotelganges und entschied, dass wohl niemand etwas dagegen hätte, wenn ich in den Räumen meines Freundes auf dessen Rückkehr warten würde.
Gegenwart, Toulon
Ein lautes Hupen, gefolgt von wüsten Beschimpfungen, riss mich zurück in die Wirklichkeit. Ich wollte, versunken in Gedanken an die gestrigen Ereignisse, eine Fußgängerampel überqueren, bei der ich rotes und die Autofahrer grünes Licht hatten. Natürlich reagieren einige Fahrer leicht gereizt darauf.
Ich blickte auf die gegenüberliegende Straßenseite und stellte fest, dass ich inzwischen instinktiv am Hotel angekommen war.
Die fragenden Blicke und erstauntes Getuschel seitens der Hotelangestellten ignorierend, checkte ich ein und begab mich sofort auf mein Zimmer.
Eine Dusche und eine Rasur trugen leider nichts zum meinem Wohlbefinden bei.
Ich ließ mich rücklinks auf das hohe Bett fallen und überlegte wie es weiter gehen sollte.
Ich dachte mit Schrecken an Gestern. Erinnerte mich daran, als ich in das Zimmer des Professors eintrat - keine Menschenseele. Ein großer Einbauschrank, zwei getrennte Betten, ein winziger Tisch und zwei Stühle füllten den kleinen Wohnraum vollkommen aus. Alles bestand aus Edelholz und sah teuer aus. Doch konnte man an der Größe des Appartements erkennen, dass es sich hierbei um eines der kostengünstigeren Zimmern des Hotels handelte. Außerdem verwunderte mich die Anwesenheit von zwei Betten. Wie es schien, haben Erich und Edith zusammen ein Zimmer genommen. Dies ließ mich schlussfolgern, dass sie im Moment Geldprobleme hatten. Weiterhin verwunderten mich die unausgepackten Koffer. Soweit ich es an der halb geöffneten Schranktür erkennen konnte, war der Schrank vollkommen leer. Keine Kleider und keine Schuhe waren dort zu finden. Wollten die Beiden schon wieder aufbrechen oder waren sie womöglich ständig abreisebereit?
Ich ging ins angrenzende Badezimmer um mich etwas frisch zum machen.
An das danach Geschehene konnte ich mich aufgrund des Schockes nur noch bruchstückhaft erinnern: Dunkelheit, Licht, Blut, der bestialisch zerfetzte Körper der Professors zusammengesunken in der Duschkabine, überall Glassplitter, der Brechreiz und ich über der Toilettenschüssel, das Klopfen an der Eingangstür und die fordernden Rufe von draußen, die Polizei und die Fahrt zur Gendarmerie...
Alles was mir blieben war, waren Fragen und ein schlechtes Gewissen. Hätte ich den Tod meines Freundes verhindern können wenn ich einen Tag früher nach Toulon gekommen wäre? Was hatte Erich für Schwierigkeiten und wer hatte ihn ermordet. Hatte all das etwas mit seinem und Ediths verschwinden vor vier Jahren zu tun? Wo ist Edith? Und wer hat meine Kaution bezahlt.
An meiner Tür klopfte es. Erschrocken fuhr ich in die Höhe. Konnte es schon wieder die Polizei sein? Ich stand auf und begab mich zur Tür. Als ich diese aufmachte, stand nicht die Polizei davor - es war noch viel schlimmer.
Gegenwart, Paris
In einem Appartement hoch über den Dächern der Millionenstadt beugte sich eine massige Gestalt über einen großen Monitor, der in die Oberfläche eines großen und extrem teuren Mahagonitisch eingelassen war. Auch die restliche Einrichtung der riesigen Raumes war mit allerfeinstem Mobiliar ausgestattet. Die Bilder auf den Wänden und dutzende von Skulpturen in den verschiedenen Vitrinen bewiesen, des deren Besitzer einen exquisiten Geschmack sowohl beim Einrichten von Räumen wie auch in der Kunst hatte. Sie waren aber auch die Zeugen für die Tatsache, dass sich deren Besitzer sich keinerlei Gedanken um den Preis der Dinge, die sein Interesse geweckt haben, machen brauchte.
Bis auf den Monitor war der Raum nicht beleuchtet. Der blasse Schein des Bildschirms tauchte das Gesicht des Mannes in ein geisterhaftes Leuchten und verfälschte seine Gesichtszüge zu einer grinsenden Fratze. Doch der Mann grinste nicht. Im Gegenteil, sein Blick und seine Stimme verrieten Sorge.
"Haben Sie das Objekt gefunden?", fragte er voller Ungeduld seinen Gesprächspartner am Bildschirm.
"Leider nicht, doch wir haben unsere beste Kraft darauf angesetzt. Es ist nur eine Frage der Zeit", antwortete eine ruhige selbstsichere Stimme.
Der Mann am anderen Ende der Leitung war es nicht gewöhnt anderen Leuten Rechenschaft ablegen zu müssen. Gewöhnlich erteilte er Befehle, doch besondere Zeiten benötigten eben ein besonderes Verhalten. Es fiel ihm nicht sehr schwer sich an diese neue Situation anzupassen. Er wusste genau, dass dieser Zustand nur vorübergehend war und er am Ende der eigentliche Gewinner sein würde.
"Wir haben keine Zeit mehr für irgendwelche Experimente, wir brauchen den Gegenstand spätestens in einer Woche. Sonst ist alles verloren. Doch was erkläre ich Ihnen das? Sie wissen doch selbst am besten Bescheid, was auf dem Spiel steht. Ich werde morgen das nötigte Geld überweisen lassen. Enttäuschen Sie mich nicht!", ohne eine Antwort abzuwarten drückte die Gestalt einen Knopf auf der kleinen Tastatur neben dem Monitor und die Verbindung bracht ab.
Was er in seinen fünfzig Lebensjahren gelernt hatte, war dass man sich nie auf andere verlassen sollte. Also wählte er eine Nummer aus seinem digitalen Telefonbuch und hörte die ersten Freizeichen, während Plan B in seinem Kopf Form annahm.
Gegenwart, Toulon
Als die Tür aufging, benötigte ich nur eine Sekunde um die Besucherin als eine Reporterin zu identifizieren. Den Notizblock in der einen Hand, den Stift in der der anderen und ein freches Lächeln im Gesicht sah sie typisch für eine Vertreterin ihres Berufsstandes aus. Auch die große Tasche an der linken Schulter und die obligatorische Brille gehörten nach meiner Vorstellung einfach dazu. Ich hasste Reporter noch viel mehr als beim Essen gestört zu werden. Seriöse Reporter hatten in meiner Weltanschauung durchaus eine Daseinsberechtigung, doch Sensationsjäger niveauloser Schmierblätter - denn nur um so einen konnte es sich hierbei handeln, wenn man das gestern Geschehene bedenkt - konnte ich nichts abgewinnen. Wobei dieses Exemplar wirklich sehr gut aussah, wie ich trotz meiner Abneigung zugeben musste.
"Monsieur Berneau?", fragte sie höflich.
"Hören Sie", meinte ich ohne auf ihre Frage einzugehen, "ich weiß warum Sie hier sind. Doch ich kann Ihnen leider nicht weiter helfen. Haben Sie einen schönen Tag, Madame."
Und ich machte mich daran die Türe wieder zu schließen.
"Warten Sie bitte...!" Ihr Fuß schob sich in den Spalt zwischen der Tür und dem Türrahmen.
Ihre Aufdringlichkeit machte mich wütend. Ich öffnete die Tür und ich funkelte sie böse an.
Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. "Tut mir leid, Monsieur Berneau. Mir ist vollkommen klar, dass dies kein guter Zeitpunkt ist um von Reportern belagert zu werden. Es tut mir auch aufrichtig um Professor Labornier. Es immer schwer, wenn ein guter Freud von uns geht. Vor allem unter diesen Umständen."
Ich sagte kein Wort, starte sie an und wurde immer ungeduldiger.
Sie schien dies zu bemerken und versuchte zum Kern ihres Anliegens zu kommen.
"Ich weiß, dass Professor Labornier Sie gestern angerufen hatte. Edith hatte mir das erzählt."
"Sie hatten Kontakt zu Edith?" platzte es aus mir heraus.
"Ja. Sie rief mich gestern gleich nach Ihrem Telefonat mit dem Professor an. Sie bat mich heute vorbei zu kommen. Sie meinte, dass sie meine Hilfe benötigt und mir gleichzeitig die Story meines Lebens liefern würde. Also machte ich mich sofort auf den Weg und fuhr von Paris aus die ganze Nacht durch, um rechtzeitig hier zu sein. Sie meinte, dass ebenso ein guter Freund der Familie kommen wird und nannte ihren Namen. Als ich am Hotel ankam, sah ich nur noch wie Sie von der Polizei abgeführt wurden. Ich zählte eins und eins zusammen, stellte Nachforschungen an und ließ meine Kontakte spielen. Ich fand ihre Namen heraus und..."
"... hinterließen die Kaution", vollendete ich ihren Satz.
"Genau. Leider musste ich noch schnell was erledigen und konnte nicht auf Sie an der Polizeiwache warten."
"Sie setzen eine Menge Vertrauen in jemanden, denn Sie noch nie in Ihrem Leben gesehen hatten", warf ich ein.
"Edith vertraute Ihnen. Das ist für mich Sicherheit genug."
Ich war immer noch skeptisch. "Woher kennen Sie Edith?"
Sie zögerte einwenig mit der Antwort, sagte dann aber: "Ich bin Mia, ihre Halbschwester", und reichte mir die Hand.
New York, Gegenwart
"Sie sind da! Sie sind unter uns! Sie wollen uns holen!"
Mitten auf der stark befahrenen Kreuzung 4th Avenue und der 24sten lief zwischen den langsam rollenden Fahrzeugen ein wild aussehender Mann eines schwer zu schätzenden Alters. Mit seinen zerlumpten Kleider, dem langen Haar und dem dichten Bart im Gesicht konnte er ebenso dreißig, wie auch doppelt so alt sein. Der irre Blick in seinen Augen ließ die Passanten um ihn herum in einem wilden Durcheinander beiseite gehen. Doch der Mann schien sowieso nicht die Absicht zu haben einzelne Personen anzusprechen. Er nahm kaum die Umwelt um ihn herum wahr und schien sich geistig irgendwo anders zu befinden. Ständig sprang er urplötzlich bei Seite und deutete mit zittriger Hand und kreischender Stimme auf eine Stelle, an der sich niemand befand. Auf eine Stelle, die stets vollkommen leer war.
Die meisten Menschen in New York waren an durchgeknallte Typen gewohnt und wunderten sich kaum über solche Auftritte. Sie lernten schon im Kindesalter, dass die beste Vorgehensweise in solch einer Situation das Ignorieren und Ausdemweggehen ist. So war es nicht weiter verwunderlich, dass dem Mann kaum Beachtung geschenkt wurde. Er torkelte noch gut eine halbe Stunde durch die geschäftigte Menschenmenge und verschwand dann in einer engen, ruhigen Gasse, wo er sich zunächst an eine Hauswand anlehnte um zu verschnaufen. Einen Propheten zu mimmen war eine richtig anstrengende Angelegenheit. Doch die Mühe lohnte sich auf jeden Fall. Die letzten zwei Male wurde er mehr als gut bezahlt und auch dieses Mal würde man für ihn eine großzügige Belohnung bereit halten.
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