Fallout
Als Georg Becker das Büro verließ, war die Welt noch in Ordnung. Er verließ wie immer als letzter die Räume. Er schaute auf die Uhr, 20:15, schaltete das Licht aus und begab sich den langen Gang entlang zum Fahrstuhl. Dort benutzte er seine ID-Karte um den Fahrstuhl zu holen. Dann stieg er ein, drückte den Knopf für Erdgeschoss und fühlte die Müdigkeit, als sich die verspiegelte Kabine sanft nach unten begab. Unten angekommen, steuerte er auf den Ausgang zu. Beim Passieren des Empfangspultes nickte er kurz dem Wachmann zum Abschied, drückte die Glastür nach Außen und wurde von der Dunkelheit und dem stechend kalten Oktoberregen empfangen. Auf der Suche nach seinem Auto überquerte er den dürftig beleuchteten Parkplatz - heute wird überall gespart, dachte er sich. Er erblickte sein Auto und suchte die Taschen seines Aktenkoffers nach dem Schlüssel ab. Schließlich fand er ihn und steckte den Schlüssel nach mehreren Fehlversuchen in das Schloss. Kaum hatte er ihm umgedreht, als es plötzlich Tag hell wurde und er kurz drauf hinter seinem Rücken einen starken Wärmezug spürte. Auf der Suche nach der Quelle dieses Phänomens drehte er sich überrascht um und erstarrte, als die Hitzewelle der Explosion eines zehn Kilometer entfernten Kernkraftwerkes über ihn her rollte und im Bruchteil einer Sekunde seinen sündhaft teuren Anzug von Armani in Nichts auflöste."... eine ungeheure Katastrophe. Wie uns soeben gemeldet wurde, explodierten in Europa fast gleichzeitig über einhundert Kernkraftwerke. Gleichzeitig brachen alle Kommunikationskanäle zu dem Kontinent zusammen. Kaum eine der europäischen Regierungen kann zur Zeit kontaktiert werden... Wir haben soeben die Nachricht erhalten, dass die Kommunikationsprobleme mit Europa mit dem Abschuss unzähliger Satelliten in der Umlaufbahn der Erde zusammenhängt. Es wird vermutet, dass die dafür verantwortlichen Raketen ihren Ursprung im nahen Osten hatten. Wir hier bei CNN... Einen Moment bitte... Wir haben eine Liveschaltung zum Präsidenten der Vereinigten Staaten..."
"Sehr geehrten Bürger und Bürgerinnen der Vereinigten Staaten von Amerika. Wie soeben bekannt wurde, unterlag Europa einem Angriff von Unbekannten. Wir bekommen weder eine Verbindung zu unseren Verbündeten, noch zu den dort stationierten US-Streitkräften. In diesem Augenblick berichten uns unsere Beobachtungssatelliten, dass dutzende Langstreckenraketen mit atomaren Sprengköpfen von Europa und Asien aus gestartet sind und sich auf dem Weg zu uns befindet. Es bleibt uns nicht viel Zeit um Entscheidungen zu treffen. Ich habe den Ausnahmezustand ausgerufen und einen Gegenschlag angeordnet. Wir schießen mit allem was uns zur Verfügung steht zurück. Wir haben keine Andere Wahl. Bitte vergebt mir diese Entscheidung. Gott möge uns beistehen!"
An diesem Tag erstrahlte die Erde wie eine kleine Sonne. Von Rand des Sonnensystems konnten rund um den Globus tausende kleine Atompilze, samt den dazugehörenden gleißenden Blitzen und ringartigen Druckwellen beobachtet werden. An sich ein durchaus beeindruckendes und wunderschönes Schauspiel, welches sicherlich einen Applaus wert wäre, wenn es sich dort nicht um die Vernichtung der Menschheit gehandelt hätte.
Georg Becker kam langsam zu sich und richtete sich schwerfällig auf. Er hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Er betastete seinen Körper nach Verletzungen und stellte fest, dass er zwar absolut nackt, aber äußerlich vollkommen unverletzt war. Er konnte sich erinnern, wie ihn die Druckwelle in die Luft hob und mit dem Kopf voran gegen einen einige Meter entfernten Geländewagen schleuderte. Dann wurde es dunkel. Er wusste nicht, wieviel Zeit seit dem vergangen war und fürchterliche Kopfschmerzen ließen ihn diesen Gedanken nicht weiterführen. Auch seine Augen taten ihm weg, als er aufmachte. Langsam gewöhnte sie sich an gleisende Helligkeit eines sonnigen Tages. Georg lag auf dem Rücken und konnte einen strahlend blauen wolkenlosen Himmel über sich sehen. Er versuchte sich aufzurichten, wurde aber durch einen plötzlichen Schwindelanfall wieder zu Boden gezwungen. Einige Augenblicke später versuchte er es erneut, diesmal mit Erfolg. Er setzte sich auf, sah um sich und erschauderte; nichts war mehr wie er es kannte. Die verglaste Front des Hochhauses, in dem sein Büro lag, war komplett verschwunden. Soweit er von seiner Position aus sah, war das Innere des Gebäudes komplett leergefegt. Die Sonnenstrahlen brannten auf ein nacktes, verbranntes Gerüst hernieder, welches nicht mal andeutete wenige Stunden früher tausende von lebenden, arbeitenden Menschen beheimatet zu haben. Auch die anderen Bauten in der näheren Umgebung hatten auf die gleiche Art und Weise gelitten. Die Parkanlagen mit ihren gepflegten Rasenflächen und den mittelhohen säuberst geschnitten Bäumen waren ebenso verschwunden, wie die kleinen Wäldchen auf den nahen Hügeln. Alles war verbrannt, leer und absolut leblos.Verwirrt stand Georg inmitten mehrerer rauchender Autowracks, die verformt und umgeworfen um ihn herum lagen. Was war passiert; seine Gehirn fing nur sehr langsam an zu arbeiten. Das Licht, die Hitze, die Druckwelle und die Folgen um ihn herum deuteten auf eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes hin. Oder war es womöglich ein Angriff. Doch wer und warum? Und die Frage, die ihn am meisten beschäftigte, war: warum war er noch am leben, währen alles Lebendige um ihn herum soweit er sehen konnte offensichtlich nicht mehr existierte. Alle Anzeichen deuteten auf einen Angriff - oder Unfall - atomarer Art, doch er, Georg Becker, war noch am Leben und das obwohl er sich offensichtlich sehr nah am Ursprung der Detonation befunden hatte. War es Glück für ihn, dass er es überlegt hatte? Wohl nicht, er erinnerte sich sehr wohl an die Überlebende des Atombombenabwurfs auf Hiroschima im zweiten Welt, wie sie in Dokumentationen gezeigt wurden. Wie die Menschen langsam und qualvoll dahin siechten und nichts tun konnten und den schmerzvollen Zerfall des eigenen Körpers aufzuhalten. Auch ihm würde dies bevorstehen. Doch es brachte nichts hier herum zu sitzen und zu trauern. Er musste los und schauen ob er weitere Überlebende finden würde. Mit Sicherheit wurden überall medizinische Notfallstationen eingerichtet und wer weiß, womöglich gibt es heutzutage sogar Mittel, die gegen eine radioaktive Verseuchung des menschlichen Körpers heilen können - schließlich hatten wir das 21. Jahrhundert, auf diesem Gebiet hatte sich in den letzten siebzig Jahren bestimmt was getan. Er stand vollends und suchte nach einer Möglichkeit seine Blöße zu bedecken, doch alles um ihn herum war geschmolzen und verglüht, daher blieb ihm nichts anderes übrig als nackt los zu ziehen. Sein Ziel war die nächste Stadt, die sich zirka dreizig Kilometer nördlich befand. Er untersuchte die Wracks umliegender Fahrzeuge. Im Inneren waren sie alle ausgebrannt und die ganze Elektronik war verschmorrt, ebenso die Reifen, die sich deformiert an die verrußten Felgen klammerten. Na dann, dachte er bitter, bleibt dir nicht anderes übrig, als zu Fuß los zu ziehen.
Zuerst lief Georg die leere Hauptstraße entlang, als diese in die Schnellstraße einmündete, folgte er dieser. Es war ein komisches Gefühl die sonst so stark befahrene Straße leer zu sehen. Immer wieder versperrten ihm Wracks von Fahrzeugen jeder Größe den Weg, so dass er entweder darüber klettern oder außenrum gehen musste. An einer Stelle wurde ein riesiger LKW samt Anhänger umgeworfen und vermutlich durch die Druckwell mit so einer Wucht die Fahrbahn entlang gefegt worden, dass er auf seiner Schlitterpartie dutzende PKWs mitgerissen hatte und nun einen Meter hohen Berg aus schwarzem verborgenen Metall darstellte. Georg umrundete das düstere Machwerk und erblickte in der Ferne die ersten Hochhäuser der Stadt. Aus Gewohnheit sah er auf seine Armbanduhr, doch sie stand immer noch - wie er im Laufe des Vormittags unzählige Male feststellen musste. Er klappte die Schnalle auf, zog die Uhr vom Handgelenk und schleuderte das letzte Stück seines vergangenes Lebens die geschwärzte Böschung herunter. Er schaute nach oben und versuchte die Tageszeit anhand des Sonne zu bestimmen. Es war auf jeden Fall später als zwölf Uhr, soweit konnte er den Stand deuten konnte. An dieser Stelle bereute er nicht zu ersten Mal sich die letzten Jahre nicht um naturnahe Fertigkeiten gekümmert zu haben, sondern in allen Belangen sich stets auf den modernen Luxus der Elektronik verlassen zu haben. Für eine den Oktober war dies ein ungewöhnlich heißer Tag. Georgs Gesicht und die Schultern glühten vor Sonnenbrand. Auch der Rest seines Körpers leuchtete inzwischen in einem grellen Rot. Natürlich konnte er sich im Schatten irgendeines Fahrzeugs verkriechen und auf den kühlen Abend warten, um weiter zu marschieren. Doch wie würde die Nacht werden? Er bezweifelte, dass die Temperaturen bei Dunkelheit angenehm genug wären um ihn behaglich schlafen zu lassen. War er brauchte, waren Kleider und eine vorübergehende Unterkunft, wo er sich zurückziehen konnte um sein weiteres Vorgehen zu planen. Und natürlich benötigte er Essen und Trinken, wie sein knurrender Magen bestätigte. All das hoffte er in der Stadt zu finden. Außerdem hegte er immer noch die Hoffnung, dort weitere Überlebende zu treffen. Zusammen würde man dann schon einen Weg aus dieser Miesere finden. Diese Gedanken motivierten ihn ein wenig und er beschleunigte seinen Schritt. Noch maximal eine Stunde und er würde am Ziel sein.
Seine Fußsohlen schmerzten höllisch und färbten den Asphalt unter ihm rot, doch er hatte es geschafft. Die ersten Vorstadtgebäude zogen an ihm vorbei, doch diese sahen kaum besser aus wie das Gebäude, an dem seine Reise begonnen hatte. Erst als er sich immer mehr der Stadtmitte näherte, erblickte er hier und dort fast unversehrte Bauten. Es waren fast alles kleinere Häuser und Lagerhallen, die im Schutz anderer größer Bauwerke der Katastrophe erfolgreicher trotzen konnten. Was Georg anfangs nicht aufgefallen war, waren die Leichen oder fast die Skelette anderer Menschen, die überall auf den Straßen lagen. Sie alle waren schwarz verbrannt und kaum vom schwarzen Hintergrund der sonstigen verbrannten Gegenstände zu unterscheiden. Hatte man einmal den Blick für diese armen Gestalten geschärft, fand man sie allerorts - egal wohin der Blick fiel. Des Weiterem fiel ihm die Ruhe auf, die über der Stadt lag. Es waren keine Autos zu hören - keine heulenden Motoren und kein genervtes Gehupe. Auch keine Menschenstimmen waren zu vernehmen, ebenso waren keine Tiere oder Vögel zu hören. Nur der Wind heulte leise durch die blinden Fenster der zerstörten Bauwerke.
Bald lief George eine schmale einst von grünen Tannen gesäumte Allee entlang. Auf beiden Seiten drängelten sich winzige Reihenhäuser, die bewusst in die Höhe gebaut wurden um den teuren Grundstückspreisen entgegen zu wirken. Georg beschloss in diesen Häusern nach etwas Essbaren und nach Kleidung nach zu sehen. Erwählte gleich den ersten Eingang zu seiner Rechten und steuerte über einen kurzen Weg auf eine dunkelblaue Tür zu. Auch wenn er wusste, dass die kaum nötig wäre, versuchte er trotz der Situation Anstand zu wahren und klopfte laut an. Wie zu erwarten war, bekam er keine Antwort. Er drückte die Tür, doch diese war verschlossen. Also stieg er die Stufen zum Vorgarten herunter und suchte dort nach einem Stein. Doch die einstigen Besitzer des Gartens waren wohl leidenschaftliche Gärtner, denn im Garten gab es kaum Steine, die die Größe eines Kieselsteines überschritten. Mit viel Mühe grub er eine der Betonplatten, die den Weg vor dem Haus pflasterten, aus und hob sie mit vor Anstrengung zitternden Händen auf. Es sah nochmal in beide Richtungen die Straße herunter und vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete. Welch ein paradoxer Gedanke, dachte er lächelnd: auf einer Seite versucht er sich vor möglichen Beobachtern zu verstecken, auf der anderen Seite würde er alles dafür geben, einen anderen Menschen zu treffen. Zwar war schon immer ein eher ruhiger Typ, der kaum Gesellschaft benötigte, doch nun war er anders Es war schon zu wissen, dass Menschen um einen herum sind, auch wenn man deren Nähe nicht bewusst in Anspruch nahm. Doch zu wissen, dass niemand um ihn herum war, das er der einzige Mensch im Umkreis von hunderten Kilometern sein konnte, dieser Gedanke machte ihm Angst. Mit der Betonplatte in den Händen ging er zu dem Fenster um Erdgeschoss, welches sich auf seiner Brusthöhe befand, holte aus und schlug die bereits mehrfach gesprungene Scheibe ein. Dann streckte er sich und griff nach dem inneren Fenstergriff und ließ das Fenster nach innen aufschwenken. Georg zog sich hoch, sorgsam darauf bedacht den kleinen und großen Glassplittern aus dem Weg zu gehen. Doch trotz seiner Vorsicht schnitt er sich an mehreren Stellen die Hände auf. Das erinnerte ihn daran, dass er nicht vergessen sollte wichtige Medikamente und reichlich Verbandszeug mit zu nehmen. Er schaute sich um.Wie es schien, befand er sich im Zimmer eines Kindes.
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