Der Urwald

Jan dreschte mit der Machete auf das undurchdringliche Dickicht ein und arbeitete sich Schritt für Schritt durch die grüne Masse. Laut seiner Uhr war er nicht einmal eine Stunde auf diese Art unterwegs, jedoch schmerzten seine Arme bereits so, als würde er sich seit Tagen durch den Busch schlagen. Er humpelte leicht. Die Verletzung an seinem linken Bein blutete zwar nicht mehr, nachdem er am Wrack des Flugzeugs notdürftig einen Verband um die Wunde gewickelt hatte und sich einige Minuten zurücklehnte, jedoch war es bei dieser Anstrengung nur eine Frage der Zeit, bis die Wunde wieder aufriss. An seinen Kleidern gab es keine einzige trockene Stelle und der Schweiß brannte in seinen Augen, doch langsam gewöhnte er sich an die drückende feuchte Hitze des Urwaldes. Als er nach dem Absturz aus dem Flugzeugwrack heraus krabbelte, überrollte ihn die schwüle heiße Luft einer Lawine gleich. Völlig unvorbereitet schnappte er minutenlang keuchend nach dem lebensnotwendigen Sauerstoff, bis sich seine Lunge an das ungewohnte Klima gewöhnte. Er las viel darüber in den Büchern, doch wie so oft lagen die Theorie und die Praxis weit auseinander. Kein Buch, keine Dokumentation mit den Erfahrungen aus dritter Hand, konnten ihn auf diesen Moment vorbereiten. Auch die Geräusche des Urwaldes kannte er aus diversen Filmen, doch mitten drin zu sein, und dazu noch ganz auf sich alleine gestellt, forderten einem deutlich mehr Mut ab, als er sich dies je eingestanden hätte. Inzwischen nahm er das Rufen, das Pfeifen, das Summen, das Krächzen, das Brühlen, das Raschen, das Kratzen, das Klopfen und all die anderen Laute um sich herum kaum wahr. Erstaunlich wie schnell sich der Körper und der Geist eines zwölfjährigen Jungen auf neue Situationen einstellen können.
Doch was war das? Er hielt inne und lauscht angestrengt. In den Lärm und Radau, die ihn seit seiner unplanmäßigen Landung begleiteten, mischte sich ein neuer Ton: menschliche Stimmen!
Jan duckte sich, unschlüssig was er nun tun sollte. Die Stimmen waren noch viel zu weit entfernt um das Gesprochene zu verstehen. Oder waren sie doch ganz nah und wurden nur stark durch die allgegenwärtige Vegetation gedämpft? Jan konnte dies nicht einschätzen. Ebenfalls konnte er sich nicht entscheiden ob es besser wäre um Hilfe zu rufen oder sich ganz ruhig zu verhalten. Bis vor wenigen Stunden, wäre ihm die Entscheidung noch absolut leicht gefallen. Da war seine Einstellung gegenüber Fremden noch nicht durch Verrat und Kaltblütigkeit erschüttert.

Wenige Stunden zuvor…
Die zweimotorige Maschine summte beruhigend, während sich Jan halb sitzend, halb liegend auf einer Bank im mittleren Bereich des Flugzeugs bequem machte. Seit Zustand wechselte immer wieder zwischen Dösen und Wachsein. Er war zu aufgeregt zum Schlafen und zu müde um dem endlosen grünen Meer unter ihm die verdiente Begeisterung entgegen zu bringen. Auf dem zwölfstündigen Flug von Deutschland nach Brasilien hatte er kaum geschlafen. In Sao Paulo angekommen, wurde er sogleich von einem Mann empfangen, den sein Vater geschickt hatte um Jan abzuholen und direkt zu der Ausgrabungsstätte in den Regenwald zu bringen, wo sein Vater auf ihn wartete. Nun flogen sie seit einer geraumen Zeit in einem kleinen klapprigen Flieger über die endlose Weite des smaragdgrünen Dschungels. Der Pilot saß vorne und Jan – der einige Passagier – hinten im Laderaum zwischen Kisten mit Vorräten und unterschiedlichen technischen Geräten. Der Blick aus dem Fenster verlor sehr schnell seinen Reit und Jans Augenlieder wurden immer schwerer, bis er schließlich einnickte.
Ein heftiger Ruck erschütterte das Flugzeug und riss Jan aus seinem traumlosen Schlaf. Er setzte sich verwirrt auf und benötigte einige Sekunden um sich in seiner Umgebung zu Recht zu finden. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Die Geräusche der Maschine hatten sich verändert. Er fühlte es mehr, als dass er es erklären konnte: irgendetwas stimmte nicht. Er stand auf und begab sich auf den Weg in den vorderen Teil des Flugzeuges. Auf dem halben Weg, ging ein weiterer Ruck durch die Maschine und warf Jan beinahe um. Nur ganz zufällig ergriff er eine der Schlaufen, die von der Decke des Flugzeugs herunter baumelten, was ihn davor bewahrte gegen eine der Seitenwände geschleudert zu werden. Er arbeitete sich die letzten Meter bis zur Pilotenkanzel durch, drückte die Klinke runter und öffnete die Tür: die Kabine war leer. Bevor er jedoch Zeit hatte, sich Gedanken über den Verbleib des Piloten zu machen, wurde seine Aufmerksamkeit sehr stark durch die Geschehnisse hinter dem Cockpitfenster in Anspruch genommen. Der Regenwald kam unglaublich schnell näher und es blieb Jan nur ein winziger Augenblick Zeit um erneut instinktiv nach dem nächstmöglichen Halt zu greifen.

Die Stimmen wurden lauter. Nun verstand Jan sogar die Wörter, musste zu seinem Bedauern jedoch feststellen, dass hier ein spanischer Dialekt gesprochen wurde, dem er mit seinen eingeschränkten Grundkenntnissen dieser Sprache nicht folgen konnte.
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