Ein arbeitsfreier (Halb-)Tag
Der Wecker klingelt, schrill und laut – zum dritten Mal, innerhalb einer halben Stunde. Wir haben 7:15 Uhr. Die Freundin steht auf und schaltet den niederträchtigen Alarm nun endgültig aus. Sie braucht es, meint sie, öfters geweckt zu werden, denn bei den ersten Weckrufen schläft sie sofort wieder ein.Ich überlege ob auch die Nachbarn im Hinterhaus, unseren Wecker drei bis fünf Mal, so früh am Morgen hören mögen und ob sie die neun Minuten zwischen den einzelnen Alarmen auch sofort wieder einschlafen? Na gut, immerhin hat sich das letzte halbe Jahr über noch keiner beschwert.
Ich drehe mich nochmals um und versinke wiederholt im Schlaf. Träume von schwarzen Digitalweckern, wie ich diesen leidenschaftlich das sich windende Stromkabel herausreise, wie ich mit einem rasiermesserscharfen Speer langsam und genüsslich die kunststoffennen Leiber durchbohre, die verhassten Wecker vor mich in die Höhe strecke und triumphierend grölend im Kreis hüpfe. Das Leben könnte so einfach sein.
Schmatz, ein Kuss landet irgendwo in meinem Gesicht – die Freundin ist bereit und geht zur Schule. Im Halbschlaf erwidere ich unverständlich einen Abschiedsgruß und schlummere noch zwei weitere Stunden.
So, neuer Tag, neues Glück. Also überlege ich mir was ich zum heutigen Glück benötige? Ich verlasse das Schlafzimmer und begebe mich ins Arbeitszimmer. Ein Blick auf meinen Computer zeigt an, dass über die Nacht einige Karaoke-Videos aus dem Internet fertig geladen wurden – na das ist doch die Idee.
Schnell wurde der Computer mit der Stereoanlage verbunden und der Bass und die Lautstärke hochgedreht. Nun kam die schwere Entscheidung: welches der Lieder sollte als erstes in den Genuss kommen, eine Performance durch meine liebliche Stimme zu erhalten. Elvis? Klingt gut. Also starte ich "It's Now Or Never".
Nach einigen Minuten harten Gesangtrainings, stelle ich erstaunt fest, dass ich dem Original im Nichts nachstehe. Die Boxen werden noch etwas lauter gedreht, die leere Wasserflasche dient als Mikrophon und das Konzert kann beginnen.
Am Ende dieser einzigartigen Darbietung tobt die Menge: die Kuscheltiere applaudieren begeistert, die Superheldenfiguren nicken mir anerkennend zu und die weiblichen Gesichter auf den Bücherrücken der Fantasyromane im Regal werfen mir aufreizende Küsschen zu - ich fühle mich wie ein Star.
Einen kurzen Moment denke ich an die Nachbarn über uns, ob diese meine lautstarke Darbietung auch so glamourös fanden? Da es sich hierbei aber um ein älteres Ehepaar handelt, haben diese so früh am Morgen doch bestimmt noch keine Hörgeräte eingesetzt. Also entspanne ich mich wieder. Die Nachbarin unter uns hat zwar Ohren wie ein Luchs und tobt inzwischen bestimmt - doch, hey, denke ich mir als alter Hase in der Musikbranche, man kann es eben nicht allen recht machen - also konzentriere ich mich auf meine treuen Sympathisanten.
"Zugabe, Zugabe!", ertönt es von überall her. Da man die Wünsche seiner Fans respektieren sollte, wiederhole ich das oben benannte Liedchen und lasse mich, mit Stolz geschwellter Brust, erneut von der Begeisterung meiner Anhänger besonnen.
Wieder wird eine Zugabe gefordert. Ich finde man sollte als großer Künstler auch Grenzen setzen: so winke ich dankend ab, verbeuge mich tief und gehe zielstrebig ins Bad. Vielleicht kommen später noch einige Groupies vorbei, bis dahin sollte ich mir doch wenigstens die Zähne geputzt haben.
Der Hunger ruft. Ich sehe auf die Uhr: 12 Uhr - die Musikaufführung hat doch länger, als geplant gedauert.
Der Weg führt in die Küche. Was wollen wir essen? Das Wort "wollen" wird schnell durch das Wort "können" ersetzt: was können wir essen? Der Kühlschrank ist leer, ich bin zu faul um Einkaufen zu gehen.
Ok, was haben wir hier? Eine halbvolle Flasche Cola, eine Tüte Chips, eine Tube Ketchup und eine fast leere Schachtel Lätta... Man(n) muss halt improvisieren.
Augenblicke später, liege ich auf der Couch im Wohnzimmer, nehme an einem Fernsehgericht teil, bestreiche die Chipsstücke mit Margarine tropfe etwas Ketchup drüber, lege diese in meinen Mund und spüle alles mit der warmen Cola herunter - frühstücken wie die Könige.
Die Sendung ist vorbei, mein Favorit hat vor Gericht unfairer Weise verloren: ich finde, der Opa durfte die beiden Jugendlichen, die sein Gebiss geklaut hatten, rechtlich gesehen, mit dem Gehstock versohlen - immer diese korrupten Richter. Vielleicht sollte ich mich brieflich bei dem Sender beschweren, bei dem Opa einschleimen, um auf diesem Weg an seine Erbschaft zu gelangen? Dann erinnere ich mich daran, dass in solchen Sendungen ja sowieso alle nur Schauspieler und Betrüger sind, wahrscheinlich gibt es da eh nichts zu holen. Und wieder stirbt eine grandiose Idee - so werde ich nie reich.
Es ist wieder Zeit für ein Gebet. Ich falle auf die Knie, falte meine Hände und schließe die Augen: "Leiber Gott. Du, der so unendlich mächtig und gerecht ist, hilf den anderen Menschen bei ihren schweren Nachforschung. Führe all die Anwälte und Notare von reich verstorbenen, aber nachfolgerlosen Adeligen auf meinen Weg. Zeige denen wo ich zu finden bin, damit das üppige Erbe mich erreicht, auf dass diese rastlosen Suchenden ihre wohlverdiente Ruhe finden mögen. Im Namen des Dollars, des Euros und all der anderen Währungen. Amen"
Dass sollte meinem Glück auf die Sprünge helfen.
Ich gähne lautstark - nun ist aber Zeit für ein entspannendes Mittagsschläfchen. Ich strecke mich auf dem Sofa aus und lasse den heutigen Vormittag Revue passieren: ein gut besuchtes Konzert gegeben, einem Gericht beigewohnt und mit Gott beim Essen geredet - der Tag hat sehr erfolgreich begonnen, ich bin mal gespannt wie er heute Nachmittag weiter geht.
Zufrieden lächelnd, gleite ich sanft in den wohlverdienten Schlaf.