Autobiographie von Daniel Lange
Hier die Autobiographie meines Opas mütterlicherseits. Eigentlich wollte ich den Text schon lange online stellen, kam aber bis jetzt irgendwie nicht dazu. Nun ist er online, ungekürzt und unverblümt. Viel Spaß beim Lesen.Inhalt
- Einleitung
- Vorgeschichte
- Odessa
- Vaters Erlebnis
- Der Unfall
- Die Stadt Ozerkow
- Die Flucht
- Das Arbeitslager
- Ein weiter Weg
- Der Zwischenstop
- Die Ankunft
- Unser neues Zuhause
- Wichtige Vorräte
- Mutters Verschwinden
- Großmutters Todestag
- Bessere Zeiten
- Mutters Tod
- Die Familie wächst
- Freiheit
Einleitung [top]
Daniel Lange verfasste den folgenden Text im Jahre 1992 - fünf Jahre nachdem er nach Deutschland gekommen war. Ausschlaggebender Grund dafür war sein Neffe Sergej Lange aus Russland. Dieser bat ihn darum, eine Biographie von seiner Familie zu verfassen. Sergejs Vater Wilhelm, der Bruder von Daniel, verstarb im selben Jahr und konnte seine Lebensgeschichte nun leider nicht mehr persönlich erzählen. Daher begann an seiner Stelle Daniel mit der Niederschrift. Anschließend schickte er den fertigen Text nach Russland zu Sergej und seine Familie. Diese leben noch heute in Rostow.
Danach blieb der Text lange Zeit in einer Schublade liegen. Ganze dreizehn Jahre dauerte es, bis ihm erneut Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Erika Ganje und ihre Kinder, Anna und Andreas, begannen damit, das Skript in die deutsche Sprache zu übersetzen. Im Laufe eines Jahres war der Text übersetzt und überarbeitet worden. Da Weihnachten kurz vor der Tür stand, entschieden sie sich, dem Großvater eine Freude zu machen. Der Text wurde mit Fotografien aus der damaligen Zeit versehen und anschließend zu einem Buch gebunden. Am Weihnachtsabend übergaben sie das Geschenk und dankten ihm für den interessanten Einblick in seine Lebensgeschichte.
24. Dezember 2006
Vorgeschichte [top]
Im Jahr 1860 wanderte mein Großvater, Wilhelm Lange, aus Ostdeutschland in die Westukraine aus. In seiner neuen Heimat kam er in ein kleines Dorf namens Wolinskaja Gubernija. Dort lernte er eine Deutsche, Emilja Kropp, kennen. Schon nach kurzer Zeit heiratete das junge Paar und bekam drei Kinder. Sie alle lebten im besagten Dorf bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914.
Aufgrund des Konfliktes zwischen Deutschland und Russland, befürchtete der damalige Zar, dass die inländischen Deutschen für ihn eine Gefahr darstellen könnten. Infolgedessen erteilte er einen Befehl, nach dem alle deutschstämmigen Familien weg von der Front, nach Osten hin, in das rückwärtige Gebiet des Landes verlagert werden sollten. Die deutschen Männer wurden gezwungen der Russischen Armee beizutreten und somit gegen das eigene Volk zu kämpfen. Auch Großvater musste dieser Unterweisung Folge leisten. Er zog in den Krieg und kehrte nicht mehr zurück.
Im Zuge der Deportation von 1914 kam meine Großmutter, Emilja Lange, mit ihren drei Kindern Gustav (geb. 1896), Elsa (geb. 1909) und Adolf (geb. am 18. September 1911 im Dorf Jatschnowka na Tschernigowtschine), nach Kustanay in Kasachstan.
Alle drei Geschwister wuchsen in dort auf. Später heirateten sie und bekamen eigene Kinder. Tante Elsa gebar einen Sohn namens Brem. Onkel Gustav konnte sich Vater einer kleinen Tochter (Anna) und eines Sohnes (Alexander) nennen.
Mein Vater, Adolf - der jüngste Sohn, vermählte sich im Jahre 1929 mit der ursprünglich aus Deutschland stammenden Natalja Konrad. Diese wurde am 24. August 1912 im Dorf Cholm, im Westen der Ukraine geboren. Genauso wie die Familie meines Vaters, wurde auch ihre Familie 1914 nach Kasachstan verschleppt.
Ursprünglich umfasste die Großfamilie Konrad acht Menschen. Die Eltern jedoch verstarben schon sehr früh in Kustanai und hinterließen sechs Kinder. Die drei Jüngsten - Natalja, Wilhelm und Olga - wurden nach dem Tode ihrer Eltern in einem Kinderheim untergebracht. Die drei Ältesten mussten sehr schnell lernen auf eigenen Füßen zu stehen und ein selbstständiges Leben zu führen, denn sie hatten keine weiteren Angehörigen, die sich ihrer annehmen konnten.
Es ist mir bekannt, dass Matilda, Augusta, Olga und Wilhelm vor dem Zweiten Weltkrieg noch in der Stadt Rostow am Don gelebt hatten. August dagegen, wohnte mit seiner Frau und drei Töchtern bei Odessa in der Stadt Beresowka. Nach dem Krieg jedoch fehlte jede Spur von den Geschwistern. Daher wurden sie von den Behörden offiziell als vermisst gemeldet. Später erzählte mir meine Mutter, dass die vier jüngsten Geschwister, unter der Führung von Stalins Truppen, nach Mittelasien deportiert worden waren. August dagegen blieb weiterhin in Beresowka. Im Jahre 1943 begegnete ich ihm persönlich, als wir in der Nähe der Stadt Odessa lebten.
Odessa [top]
Am 1. Januar 1930 wurde ich, Daniel Lange, im Dorf Warwarowka im Gebiet Kustanay geboren. Gerade in diesem Jahr herrschte im Norden Kasachstans - unserer damaligen Heimat - Hungersnot; eine Folge der vor einem Jahr stattgefundenen Dürre.
Meine Eltern, Adolf und Natalja, wie auch meine Großmutter Emilja, lebten bis zum 1. April 1930 an meinem Geburtsort. Danach entschieden sie sich zu einer Rückkehr in die Ukraine. Auf diese Weise versuchten sie der Hungersnot zu entgehen.
Inzwischen durften sich die Deutschen innerhalb des Landes frei bewegen, daher konnten sie ihr Vorhaben ohne jeglicher Hürden umsetzten. Und so fand sich die Familie Lange in der Hoffnung auf ein besseres Leben, bald bei Odessa wieder.
Während der selben Zeit wurden die Kolchosen gegründet. Wer sich diesen nicht anschließen wollte, wurde für zehn Jahre in den Ural verbannt. Alle, die den Kolchosen beitraten, erhielten ein Haus. Dieses durfte von der jeweiligen Familie solange bewohnt werden, bis diese eine eigene Behausung gebaut hatte. Meine Familie kam in einem Kolchos, namens Schmitt, im Dorf Adiaska unter. Dieses lag am Ufer des schwarzen Meeres, 50 Kilometer von der Stadt Odessa und 20 Kilometer von der Stadt Otschakov entfernt. Nicht weit von unserem Dorf, lag im Meer eine Insel namens Schmitt, welche namensgebend für diesen Kolchos war. Um die Ortschaft Otschakov zu erreichen, mussten wir entweder eine Fähre oder ein Boot benutzen. Nach Odessa kam man dagegen bequem mit Hilfe eines Pferdes.
Nicht weit von unserem Wohnsitz entfernt, befand sich die Route Odessa-Nikolaiew. Unser Haus lag sechs Kilometer vom Dorf Chuter, damals auch unter dem Namen "Gut Horenbach" bekannt, entfernt. 1932 erblickte mein Bruder Wilhelm das Licht der Welt. Er erhielt den Namen unseres Großvaters.
In Adiaska wohnten wir bis einschließlich 1937. Daraufhin zogen wir ins benachbarte Dorf Chutor, welches drei Kilometer südlich von Chuter gelegen war. Nun waren es nicht mehr als 300 Meter bis zur Küste des schwarzen Meeres. Im selben Jahr wurde mein zweiter Bruder Johann geboren. Bald darauf erhielten unsere Eltern das versprochene Stück Land im Dorf Adiaska zugewiesen und begannen dort mit dem Hausbau. Im Sommer 1939 zogen wir endlich in unser neues Heim ein. Von 1938 bis 1941 besuchte ich drei Jahre lang eine ukrainische Schule. In den Sommerferien des Jahres 1941, sollten die besten Schüler, zu denen auch ich gehörte, mit einem Ausflug ins Pionierlager Artek auf der Krim belohnt werden. Doch zu dieser Klassenfahrt kam es bedauerlicherweise nicht, denn Mitte Juni brach der Zweite Weltkrieg aus. Aus diesem Grund mussten wir zu Hause bleiben.
Vaters Erlebnis [top]
Die Deutschen Truppen rückten unaufhaltsam vor und befanden sich schon kurz nach dem Kriegsausbruch in der Nähe unseres Dorfes. Angesichts dieser Entwicklung, kam von oberster Stelle der Befehl, wichtige Produktionsgüter vom feindlichen Zugriff zu schützen. Folglich wurde mein Vater und weitere Kolchosenangehörige, mit einer Mission beauftragt. Ihre Aufgabe war es, das Vieh, welches dem Kolchos gehörte, in ein sicheres Gebiet am anderen Ufer des Flusses Dnjepr zu treiben. Doch kaum am Übergang angekommen, versperrten ihnen schon deutsche Truppen den Weg. Diese zwangen die kleine Gruppe von Männern, die Tiere wieder zurück zum Kolchos zu treiben.
Auf halbem Rückweg kamen jedoch russische Soldaten entgegen und verlangten das ganze Vieh im Fluss zu ertränken. Damit sollte verhindert werden, dass die Deutschen diese wertvollen Nutztiere für sich einnahmen. Mein Vater und seine Begleiter weigerten sich diesem Befehl nachzukommen. Sie wurden sofort verhaftet. Die Russen jagten ohne jegliche Gewissensbisse, die ganze Herde in den Fluss, in dem die meisten Tiere kläglich ertranken. Das wenige Vieh, das sich voller Panik ans Ufer retten wollte, wurde sofort erschossen. Mit vorgehaltener Waffe, musste mein Vater und die anderen machtlos zusehen, wie der inzwischen von Blut rotgefärbte Fluss, die Tiere in das Schwarze Meer hinausschwemmte. Die russischen Soldaten nahmen die Gefangenen mit und brachten diese in einer großen Scheune unter. Dort befanden sich schon weitere Häftlinge; allesamt russische Einwohner deutscher Abstammung. Der führende Kommandant befahl sie bis zum nächsten Tag festzuhalten, um mit den anderen Offizieren zu klären, was mit den Gefangenen geschehen sollte. Bei Fluchtversuchen wurde mit sofortiger Erschießung gedroht.
Am nächsten Morgen war es um die gesamte Scheune herum verdächtig ruhig geworden. Auch im Laufe des Vormittags kam niemand vorbei um die Gefangenen abzuführen oder freizulassen. Diese Tatsache ermutigte einige Gefangene die Scheune vorsichtig zu verlassen. Als diese feststellten, dass alle anwesenden Soldaten verschwunden waren, trauten sich auch die restlichen Männer aus der Scheune. Erleichtert über die unerwartete Wendung, begab sich jeder einzelne auf den Heimweg.
Als mein Vater in seinem Dorf ankam, waren auch dort keine Angehörigen der Sowjetarmee mehr stationiert. Überrascht beobachtete er, wie die Kolchosenangehörigen an der Nahrungsmittelproduktion fleißig weiterarbeiteten, so als wäre nie etwas geschehen.
Einige Wochen später, Ende Juli, wurde unser Dorf, in welchem nur drei deutsche Familien wohnten, von den deutschen Truppen besetzt. Im Herbst 1941, sammelten die dort stationierten Soldaten alle Russlandsdeutschen und gründeten ein eigens für uns errichtetes Dorf Otelental. Dieses befand sich sechs Kilometer von unserem ehemaligen Haus und zwei Kilometer vom Meer entfernt. Dort mussten sich alle deutschen Familien aus dem Umkreis niederlassen.
Schon im September besuchten wir eine deutsche Schule, die direkt am Schwarzen Meer lag. Darin wurden wir von einem jungen deutschen Soldaten unterrichtet.
Obwohl wir uns nicht auf deutschem Boden befanden, mussten alle Kinder der Hitlerjugend beitreten. Die zuständigen Leiter lernten uns singen und marschieren. Auch die allgemeine Kriegsvorbereitung kam bei all dem nicht zu kurz.
Bald erhielten wir erneut etwas Land und Vater musste wieder mit dem Bau eines Hauses beginnen. Während dieser Zeit wohnten wir übergangsweise in einer fremden Unterkunft.
Der Unfall [top]
Bis einschließlich dem 8. November 1942 besuchte ich die neue Schule. Noch im selben Monat, hatte ich einen schweren Unfall. Mein fünfjähriger Bruder Johann, sein gleichaltriger Freund und ich spielten außerhalb des Dorfes. Plötzlich kam mein Bruder angerannt und zeigte mir voller Begeisterung seinen Fund. Er hielt einen scharfen Zunder in seiner kleinen Hand. Die Lunte war fast komplett heruntergebrannt und glimmte nur noch sehr schwach aus dem bedrohlichen Bausatz. Ich erkannte die Gefahr sofort und riss ihm den Sprengkörper blitzartig aus der Hand. Um die Beiden zu beschützen, versuchte ich den Zunder in einem nahgelegenen Wassertrog zu löschen. Zu meinem Unglück beinhaltete dieser aber kein Wasser. Aus diesem Grund lief ich weiter und holte währenddessen aus, um die Bombe von mir zu werfen. Leider spielte die Zeit gegen mich und der Sprengsatz explodierte in meiner rechten Hand. Die Sprengkraft riss mir den kleinen Finger ab.
Zwei rumänische Sanitäter aus unserem Dorf hörten den Knall und eilten herbei um Erste Hilfe zu leisten. Danach wurde ich sofort nach Odessa ins Militärhospital gebracht. Dort amputierten mir die Ärzte zusätzlich einen weiteren irreparabel beschädigten Finger und einen Teil der zerfetzten Handfläche. Bis Ende Februar musste ich in diesem Krankenhaus verweilen.
Später stellte sich heraus, dass einige Soldaten ihren Spieß erschrecken wollten und deshalb die Idee hatten, hinter einer Latrine, in der sich der Kamerad befand, diesen kleinen Sprengsatz zu platzierten. Mein Bruder und sein Freund befanden sich zu diesem Zeitpunkt in der Nähe dieser Latrine. Sie wurden durch den fein aufsteigenden Rauch auf das Objekt aufmerksam und nahmen es kurzerhand mit.
Die Stadt Ozerkow [top]
Im Sommer 1943 hatte mein Vater unser neues Haus fertiggestellt und wir konnten einziehen. Damals sagten meine Eltern etwas, das ich bis heute nicht vergessen habe: "Nun haben wir endlich unseren Platz in der Welt gefunden. Von diesem Zeitpunkt an, soll dieses Haus auch unseren Kindern und Kindeskindern als Zuhause dienen." Leider ging dieser Wunsch nicht in Erfüllung, denn am 16. März 1944 mussten wir auf Befehl der deutschen Soldaten nach Polen ausreisen. Auf Pferden und Karren sollten wir fortgebracht werden. Wir rüsteten unsere drei Pferde für die lange Reise. Mein Vater baute selbständig einen geräumigen Wagen und überzog ihn mit einer Plane. Kurz darauf traten wir unsere Reise an.
Unsere Familie bestand inzwischen aus sieben Menschen. Diese beinhaltete meine Eltern, die Großmutter Emilia, meine beiden Brüder Wilhelm und Johann, die kleine Schwester Lydia (geb. 1942) und mich.
Unsere beschwerliche Reise führte durch die Ukraine und Moldawien. Wir erreichten Rumänien und überquerten das Karpatengebirge. Nachdem uns die deutsche Soldaten in Ungarn die Pferde weggenommen hatten, waren wir gezwungen uns anderweitig fortzubewegen. Die Soldaten verwiesen uns auf die Eisenbahn, mit der wir dann unsere Fahrt fortsetzten.
Als wir etwa zwei Monate nach unserem Aufbruch, im Mai 1944 in Polen ankamen, führte man uns in die Stadt Ozerkow, fünfundzwanzig Kilometer von Lodz entfernt. Dort wurde speziell für Flüchtlinge, wie wir es waren, ein Lager eingerichtet. In diesem durften wir uns waschen und bekamen saubere Kleidung. Innerhalb der nächsten zwei Wochen wurden die Flüchtlinge, auf die umliegenden polnischen Dörfer verteilt. Wir kamen ins Dorf Sokolniki, welches sieben Kilometer neben der Stadt Ozerkow lag. Dort mussten wir zusammen mit den einheimischen Polen für das Wohl des Deutschen Reiches arbeiten. Zu unseren Aufgaben gehörte unter anderem die Gartenarbeit und die Versorgung des Viehs. Inzwischen war ich vierzehn Jahre alt und durfte noch einige Monate die Schule besuchen. Es waren die letzten Monate, die ich in einer Schule verbrachte.
Mein Vater Adolf bekam nach unserer Ankunft eine Arbeitsstelle im Stahlwerk. An diesen Ort wurden Teile von abgeschossenen Flugzeugen gebracht und verarbeitet. Die Arbeitskräfte trennten das Metall von den übrigen Materialien, gossen es ein und erstellten Stahlkörper zur weiteren Verwendung. Da die Arbeiter dort sehr schwere körperliche Arbeiten zu verrichten hatten, wurde mein Vater eines Tages sehr krank. Am 2. August 1944 verstarb er im Alter von 33 Jahren in einem naheliegenden Krankenhaus und wurde von uns in Ozerkow beerdigt.
Die Flucht [top]
Währenddessen bewegte sich die Russische Armee unaufhaltsam voran, bis sie sich schließlich im Januar 1945 mitten in Polen befand. Der 18. Januar 1945 war das Datum, an dem ich mich bei der entsprechenden Behörde hätte melden müssen, um als Soldat der deutschen Wehrmacht beizutreten. Doch einen Tag zuvor, kam glücklicherweise die Russische Armee in die Nähe von Lodz und warf diese Rekrutierungspläne um. Alle Deutschen sollten evakuiert werden. Unsere Flucht in Richtung Deutschland setzte sich fort.
Drei Tage und drei Nächte waren wir ohne Pause unterwegs. Je näher wir Deutschland kamen, desto mehr Flüchtlinge stießen zu uns. Am 20. Januar 1945 hatte uns die Sowjetische Armee dann doch eingeholt. Sie nahmen uns gefangen und sperrte alle Frauen und Kinder - circa zweihundert an der Zahl- in einem Pferdestahl ein. Die Männer wurden getrennt untergebracht. Am nächsten Tag wurden alle wieder freigelassen.
Aus dem polnischen Dorf Sokolniki stammten insgesamt fünfundzwanzig Flüchtlinge. Wir hielten seit dem Verlassen des Dorfes stets zusammen und halfen uns gegenseitig. Die Russen stellten uns neue Dokumente aus und gaben uns ein Pferd samt Wagen. Als unser Eigentum durften wir nur die Kleider, welche wir am Leib trugen, behalten. Alle anderen Kleider und Wertsachen wurden konfisziert. Anschließend mussten wir zurück nach Sokolniki reisen. Die Rückkehr dauerte eine ganze Woche.
Dort erhielt unsere Familie ein Zimmer mit mehreren Betten und einem Herd. Die ersten Tage wurden wir mit Kartoffeln versorgt, danach mussten wir uns selbständig um die Nahrungsbeschaffung kümmern.
Mutter und ich fanden bei einem polnischen Bauern Arbeit. Die Großmutter blieb daheim, sorgte für die kleine Schwester und bereitete für uns die Mahlzeiten zu. Derweil sammelten meine beiden jüngeren Brüder im Wald Holz, um damit unseren Ofen zu heizen.
Das Arbeitslager [top]
Anfang Februar des Jahres 1945, wurde meine kleine Schwester unvermittelt krank und verstarb mit drei Jahren. Mutter und ich begaben uns in die Stadt und betteten sie in Vaters Grab zur letzten Ruhe. Unsere Trauer war unbeschreiblich. Großmutter war schon einiges im Leben gewohnt und versuchte ihre Trauer so gut wie nur möglich zu verstecken. Sie beschäftigte sich mit meinen Brüdern und tat alles um sie abzulenken, so dass sie nicht ständig an diese furchtbare Tragödie denken mussten. Doch nachts, als sie dachte, dass wir Kinder schliefen, weinte sie, während meine Mutter sie tröstend im Arm hielt.
Am Ende des Monats wurden alle Deutschen in Begleitung polnischer Polizei in ein Gefangenenlager gebracht. Das riesige Gelände lag weit außerhalb und war von einem Stacheldraht umzäunt. Die erste Nacht verbrachten wir dort in grob zusammengezimmerten Baracken auf blanken Holzbalken. Trotz unserer Erschöpfung, konnte niemand von uns schlafen. Die Kälte und die Angst vor dem Unbekannten hielt uns die ganze Nacht wach.
Am nächsten Morgen mussten meine Mutter und ich aus den Baracken auf einen Platz kommen, der sich inmitten des Lagers befand. Alle Frauen und Kinder ab dreizehn Jahren, fanden sich dort ein. Nachdem uns die Aufseher in Fünferreihen aufstellen ließen, marschierten wir los. Begleitet von Hunden und der Polizei, mussten wir den ganzen Tag in Richtung eines unbekannten Zieles laufen. Erst am Abend hatten wir einen großen Militärflugplatz erreicht und fanden in dortigen Baracken Unterkunft.
Am nächsten Morgen bekam jeder von uns ein kleines Stück Brot und etwas Wasser. Danach mussten wir mit der Arbeit beginnen. Die Russische Armee hatte diesen Flugplatz erst vor Kurzem erobert. Als der Flughafen noch den deutschen Truppen gehörte, wurde er von russischen Soldaten während eines Angriffs bombardiert. Die entstandenen Erdlöcher mussten wir nun beseitigen, indem wir sie mit Erde zuschaufelten. Nach zwanzig Tagen harter Arbeit durften wir für eine kurze Zeit zurück ins ursprüngliche Lager, zu unseren Angehörigen gehen.
Nach einem Tagesmarsch kamen wir an. Großmutter und die beiden Brüder warteten schon auf uns. Sie waren überglücklich uns unversehrt wieder zu sehen. Da sie zum Frühstück nur Gerstenkaffee, mittags 200 Gramm Brot und sehr selten Kraut oder Kartoffelsuppe bekamen, waren sie körperlich in einer sehr schlechten Verfassung. Sie berichteten uns mit Bedauern, dass viele Menschen in diesem Lager bereits an körperlicher Schwäche gestorben sind.
Uns Flughafenarbeitern erging es da besser. Das Essen reichte zwar auch kaum aus um den Hunger zu stillen, doch Mutter und ich konnten etwas ukrainisch und polnisch sprechen. So haben wir mit den älteren Soldaten am Flughafen Bekanntschaft geschlossen und bekamen von dieser Seite öfters Brot zugesteckt.
Viele der Arbeiter kamen im Zuge der schwierigen Arbeit, an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Doch statt sie ausruhen und neue Kräfte sammeln zu lassen, wurden sie von der polnische Polizei mit harten Schlägen erbarmungslos angetrieben. Viele hielten der unmenschlichen Erschöpfung nicht stand und starben. Bald war die Arbeit am Flughafen getan und wir bekamen zur Belohnung einen ganzen Tag frei. An diesem erhielten wir saubere Kleidung und durften baden.
Schon am nächsten Morgen marschierten wir zu einer neuen Arbeitsstelle. Hierbei handelte es sich um das Gut Sokolniki, welches sich sieben Kilometer von unserem Lager befand. Dort musste das Gemüse, welches über den Winter mit Stroh bedeckt in Gruben gelagert wurde, verpackt werden. Wir mussten Kartoffeln, Karotten, rote Rüben und Kraut aus der Erde holen. Diese wurden von uns geputzt und in Kisten und Säcke abgefüllt. Im Anschluss wurde das Gemüse in die Stadt abtransportiert und verkauft. Da es uns oft erlaubt wurde, etwas Obst für eigene Zwecke mitzunehmen, hat die Nahrung für die ganze Familie ausgereicht.
Genau so wie wir, musste auch unsere Tante Otilija, die Mutter von Anna und Sascha Lange, bei der schweren Arbeit in Sokoliniki mit anpacken. Seit unserem Aufbruch in Nord-Kasachstan waren wir unzertrennlich und meisterten dieses unbeschreibliche Elend gemeinsam.
Im April 1945 kamen drei polnische Bauern auf den Kommandanten zu und baten ihn um Arbeitskräfte. Unter Eigenverantwortung holten sie uns aus dem Lager und brachten uns in das Dorf Sokolniki. Das Dorf, in dem wir einst lebten, als die Deutschen noch an der Macht waren. Wir erhielten bei einem der Bauern, ein neues Zimmer samt Herd. Jedes Mitglied unserer Familie musste arbeiten. Johann musste das Vieh hüten und ich dagegen half auf dem Feld Kartoffeln zu setzen. Für alle anderen Arbeiten ging Wilhelm dem Bauern zur Hand.
Radieschen, Karotten und Knoblauch waren die Hauptprodukte, die wir ernteten. Anschließend verkaufte der Bauer einen großen Teil der Ware auf dem Marktplatz in der Stadt. Nach der Ernte wurde jedem einzelnen von uns eine neue Aufgabe erteilt. Ich kümmerte mich um das Vieh, Großmutter molk die Kühe und übernahm die Fütterung der Schweine und Mutter arbeitete bei dem Dorfpfarrer als Putzfrau und bereitete dort regelmäßig das Essen zu. Auch das Mähen des Heus, zählte zu unseren Aufgaben.
Ein weiter Weg [top]
So verlief unser Leben bis zum August des Jahres 1945. Eines Tages stattete die polnische Polizei unserem Grundbesitzer einen Besuch ab. Sie forderte von ihm uns mit einem Lebensmittelvorrat für eine Woche zu versorgen oder uns Geld auszuzahlen, damit wir uns selbstständig versorgen konnten. Da wir nicht viele Besitztümer bei uns hatten, dauerte es nicht lange bis wir unsere Habseligkeiten gepackt hatten. Nach einer Stunde kam die Polizei erneut und geleitete uns, zusammen mit etwa zwanzig weiteren Menschen, in die Stadt Ozerkow. Unterwegs stießen weitere Deutsche aus anderen Dörfern hinzu. Da die meisten von uns vor dem Krieg in der Ukraine lebte, nannten uns die einheimischen Polen, wie auch die russischen Soldaten, "Tschernomorskie Nemzi - Schwarzmeer Deutsche".
Am Bahnhof der Stadt Ozerkow angekommen, stiegen wir in Warenwagons und fuhren erst am späten Abend ab.
Am nächsten Morgen befanden wir uns in Lodz ein. Dort übergab man uns dem russischen Militär. Jede angereiste Familie erhielt neue Dokumente und wurde aufgefordert Polen zu verlassen, um nach Stalinobad in der tadschikischen Republik zu fahren. Wieder stiegen wir in die Warenwagons. Unser gesamter Wagon war überfüllt von Landsleuten.
Gleich zu Beginn wurde unter allen Anwesenden eine Person ausgewählt, welche die Verantwortung für uns übernahm. Auch ein russischer Kommandant und fünf Soldaten passten auf uns auf. Wir bekamen für eine Woche Lebensmittel und fuhren in Richtung Brest.
Kurz bevor wir die Stadt erreicht hatten, musste unser Zug halten. An der Lokomotive und den Wagons wurden die Räder ausgewechselt. Dieser Wechsel war zur Weiterfahrt erforderlich, da das Eisenbahnschienennetz in der Sowjetunion breiter war, als das in Europa.
Der Wechsel dauerte ganze zwei Wochen. Wir verbrachten diese Zeit in den Ruinen einer zerstörten Stadt. Ein kleines Bächlein floss in der Nähe, welches uns gleichzeitig als Trinkwasservorrat und zum Baden diente. Die Wachen versorgten uns mit Vorräten aus der benachbarten Stadt und den umliegenden Bauernhöfen. Zudem bekamen wir Konservendosen aus amerikanischen Verpflegungsbeständen.
Nach diesen zwei Wochen ging es weiter. Wir fuhren über Saratow nach Orenburg weiter. Orenburg befand sich 1500 Kilometer südlich von Moskau, unweit der Grenze von Tadschikistan. An diesem Ort sollten wir zuerst bleiben. Da unsere Gruppe jedoch hauptsächlich aus Frauen und Kindern bestand, waren wir schlechte Arbeitskräfte. Daher stellte sich die Stadtverwaltung quer und ließ uns nicht in der Stadt bleiben. Also fuhren wir zurück in die Stadt Saratow. Dort weigerte sich die Stadtverwaltung ebenso uns aufzunehmen, mit der Begründung sie hätten genug eigene hungernde Kinder. Deshalb mussten wir unsere Reise fortsetzten und weiter nach Kinischma an der Wolga fahren. Dort stiegen wir auf eine Fähre um und bewegten uns auf dem Fluss in Richtung Jurewez. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir den 30. September 1945 und die Kälte hatte Einzug gehalten.
Der Zwischenstop [top]
Bald legten wir an einem russischen Dorf namens Slobodka an und mussten die erste Nacht unter freiem Himmel verbringen. Am frühen Morgen kam ein Mann in Uniform zu uns Heimatlosen. Sein Name war Iwanow. Er leitete die Holzbeschaffung "Chomachtinskogo Lespromchosa".
Er erklärte uns, dass all diejenigen, die älter als zehn und jünger als fünfzig Jahre alt seien, ab hier zu Fuß weitergehen müssten. Die Restlichen würden mit dem Lastwagen abgeholt werden. Die meisten Kinder waren unter zehn Jahren alt. Erwachsene Männer, egal welchen Alters, gab es bei uns keine. Auch Wilhelm und ich mussten die anstehenden fünfzig Kilometer laufen.
Der Weg führte uns durch einen düsteren Wald.
Als wir schließlich im Dorf ankamen, waren die Straßen voll von neugierigen Leuten. Die Einheimischen hatten bereits vernommen, dass deutschstämmige Flüchtlinge kommen sollten. Aus Neugier, welche Art Mensch die Deutschen seien, tummelten sie sich nun auf den Straßen. Am Ende des Dorfes befand sich eine große Wiese. Auf dieser parkten einige mit Brot beladene LKWs. Iwanow sagte, dass wir vorerst alle hier bleiben sollten. Wer vorhätte zu fliehen, wird erschossen, fügte er warnend hinzu. Anschließend zeigte er uns seine Pistole.
Je drei Personen erhielten ein Leib Brot. Die Einheimischen versorgten uns mit Trinkwasser und begannen mit uns russisch zu sprechen. Da wir die ukrainische Sprache beherrschten und diese der russischen sehr ähnlich war, hatten wir keine Schwierigkeiten uns zu verständigen. Eine alte einheimische Frau fragte Iwanow was wir für Deutsche seien, wenn unsere Kinder fast perfekt russisch sprächen. Weiterhin wollte sie wissen wie die Kinder die anstehende schwere Arbeit erledigen sollten. Iwanow erwiderte ganz gelassen, dass die älteren Kinder sofort anfangen würden. Die Jüngeren dagegen, seien schon nach wenigen Jahren ebenso zur Arbeit bereit.
Nach einigen Stunden Aufenthalt, wanderten wir weiter ins Ungewisse.
Der Weg führte durch einen dichten Wald. Der Pfad war so eng und so dicht von hohen die Bäume umwachsen, dass wir nur einen ganz schmalen Streifen vom blauen Himmel über uns sehen konnten.
Bald dämmerte es und schließlich kam die Nacht. Wir erreichten ein zweites Dorf und durchquerten es ganz leise, um die Bewohner nicht zu wecken. Dann umgab uns erneut das Dickicht des Waldes. Iwanow machte uns Kindern immerzu Mut, doch der Wald wollte einfach nicht enden. Der Mond erreichte seinen Höhepunkt und beleuchtete uns den Weg. Auf dieser endlosen Wanderung, nahmen weit mehr als hundert Menschen teil. Auch meine spätere Frau, Anna Buscholl, befand sich unter ihnen. Zu diesem Zeitpunkt kannten wir uns jedoch noch nicht.
Endlich kamen wir zu einem kleinem Fluss. Eine einfache Holzbrücke verband die beiden Ufer. Iwanow erklärte uns, dass die Überquerung dieser Brücke unsere letzte Etappe darstellte. Aus Angst, die morsche Brücke würde unter unserem Gewicht zusammenbrechen, schlug er vor, dass höchstens fünfzehn Menschen auf einmal die Brücke betreten sollten.
Auf der anderen Seite des Flusses befand sich ein einsames Gebäude. Dabei handelte es ich um eine Kantine - wie wir sofort feststellen durften - die um diese Uhrzeit leer war. Darin standen reihenweise grobgezimmerte Tische, auf denen sich kleine Schüsselchen befanden. Diese waren aus amerikanischen Konservendosen geformt und beinhalteten eine salzige Fischsuppe. Scheinbar wurden wir schon erwartet. Da wir von unserem langen Fußmarsch aber sehr erschöpft waren, konnten wir selbst diesem verlockenden Angebot widerstehen und schliefen auf den Bänken einer nach dem anderen ein.
Am nächsten Morgen weckte uns Iwanow sehr zeitig. Wir mussten die Kantine räumen, da einige Arbeiter zum Frühstück kämen. Diese arbeiteten im angrenzenden Wald als Holzfäller - eine Tätigkeit, die auch uns bevorstand.
An diesem morgen zeigte das Kalenderblatt denn 1. Oktober 1945 an. Draußen vor der Kantine war es noch immer kalt und dunkel. Doch bald wurde es heller und wir konnten das Schild vor dem Eingang der Kantine erkennen: Waldstandort Schomachtinskoi Holzindustrie. Der Name Schomachtinsko kam von dem nahen Fluss Schomachta. Iwanow meinte dann, wir hätten nur noch fünfzig Kilometer vor uns. Als er unsere erschrockenen Gesichter sah, gab er zu gescherzt zu haben und lachte. Trotz unserer Situation mussten wir mitlachen.
Die Ankunft [top]
Alle Ankömmlinge wurden in drei Gruppen aufgeteilt. Die erste Gruppe blieb im Arbeitsbezirk Letnaja Basa. Die zweite Gruppe begab sich zum Nachbarbezirk Pjatiletka und wir, der Rest, gingen weiter zum Safronowa Poschnja. Der frostige Morgen hatte sich derweil in einen wunderschönen sonnigen Tag verwandelt. Iwanow drängte uns nicht und war hervorragend gelaunt. Er führte mit uns aufbauende Gespräche und lachte viel. Er zeigte uns welche Waldbeeren man essen durfte und welche nicht.
Nachdem wir weitere neun Kilometer gelaufen waren, erreichten wir gegen Mittag unseren Zielort. Mitten im Wald, am Fluss Schomachta, standen auf der einen Uferseite drei Baracken und zwei weitere auf der gegenüberliegenden Seite.
Der lokale Leiter Kostja Ustinow erwartete uns bereits. Er trug Stoffschuhe, eine dunkelblaue Hose und ein Feldhemd, welches im Volksmund auch Gimnastörka genannt wurde. Diese Bekleidung trugen damals ausschließlich Lehrlinge an Berufsschulen.
In der Kantine erhielt jeder von uns einen Pfund Brot und einen Teller Suppe, welche aus getrockneten Pilzen bestand. Anschließend durften wir uns ausruhen.
Später wurden die Plätze in den Baracken zugeteilt. Da für uns die Arbeitsstellen an diesem Ort nicht mehr ausreichten, mussten wir zwei weitere Kilometer zurücklegen. Dort befanden sich noch mehr Baracken, in denen ich und mein Bruder endlich untergebracht wurden. Auch diese lagen in Flussnähe. In den Unterkünften waren zweistöckige bettähnliche Holzbauten aufgereiht. Anstelle von Matratzen wurde hier trockenes Heu aufgeschüttet. Zu diesem Zeitpunkt wohnten hier nur zwei Frauen mit ihren Kindern. Die eine hatte zwei Kinder, die andere fünf.
Zwei Wochen später kamen Mutter, Oma, Johann und Tante Otilija mit ihren Kindern Anna und Alexander nach. Ihre Reise dauerte deshalb länger als unsere, weil nur ein einziges Auto zur Verfügung stand, welches all die Kinder und ältere Menschen nacheinander von einem Ort zum nächsten transportieren musste.
Den Winter brachten sie auch mit, denn es wurde richtig kalt. Der Schnee bedeckte gut zwanzig Zentimetern die Erde und es schneite immer weiter. Jeden Morgen gingen wir zum Frühstücken in die Kantine. Es gab stets eine dünne Suppe, für die man eigentlich überhaupt keinen Löffel benötigte. Wir tranken sie direkt aus den Schüsseln. Die Suppe bestand aus salzigem Wasser mit einigen kleinen Fischen. Brot gab es zum Frühstück jedoch nie. Da das Mittagessen ausfiel, erhielten wir erst am Abend eine weitere warme Mahlzeit: wieder Suppe und ein Stück Brot.
Unser neues Zuhause [top]
Einige Tage später kam der Betriebsleiter mit zwei Offizieren von der Miliz (MWD) vorbei. Jede Familie musste sich mit den Papieren, die sie in Polen erhalten hatte, ausweisen. Danach mussten wir ein Schreiben unterzeichnen, welches besagte, dass es jedem von uns, für zehn Jahre untersagt war diesen Ort zu verlassen. Nicht einmal in die nächste Ortschaft durften wir uns begeben. Würde man sich diesem Befehl widersetzen, käme man für zehn Jahre ins Gefängnis.
Auf diese Art sollten wir die Schuld begleichen, die Hitler uns, dem deutschen Volk, mit seiner aggressiven Expansionspolitik auferlegt hatte. Nachdem das Formale erledigt worden war, erhielt jeder, der älter als vierzehn Jahre war, ein eigenes Beil. Zusätzlich gab es für je zwei Arbeiter eine Säge. Dann bekamen wir geflochtene Schuhe, sogenannte Lapti. Weiterhin gab man uns Lumpen anstelle von Socken und einen alten Soldatenmantel. Jeder musste für den Erhalt dieser Sachen unterschreiben. Im Falle eines Verlustes der Werkzeuge oder der Kleidungsstücke, sei es durch Diebstahl oder eigenes Verschulden, musste der betroffene Arbeiter das dreifache des Anschaffungspreises des jeweiligen Produkts bezahlen.
Jeden Abend freuten wir uns erneut auf unsere Brotration. Alle Personen, die während des Tages Arbeit geleistet hatten, bekamen 600 Gramm Brot. Kinder und diejenigen, die nicht arbeiten konnten, erhielten jeweils 300 Gramm. Die Russen, die an diesem Ort lebten, nannten uns Fritzen, was soviel wie Faschisten bedeutete.
Jeden Morgen pünktlich um sechs Uhr sind Mutter, mein Bruder Wilhelm und ich zum Frühstück aufgebrochen. Wir selber hatten zwar keine Uhren, doch dafür gab es Abhilfe. Ein Feuerwehrmann schlug zu jeder vollen Stunde auf ein hängendes Stück Gleis die Stundenzahl. Das hellklingende Geräusch war kilometerweit zu hören und half uns allen bei der täglichen Zeitorientierung. In der Kantine tranken wir wie gewohnt unsere Suppe. Drei Portionen gossen sie uns zusätzlich in einen Eimer, den ich aus leeren Konservendosen gebastelt hatte. Großmutter und Wilhelm nahmen den Eimer mit nach Hause und hatten auf diese Weise Essen für den ganzen Tag. Danach begab ich mich mit meinem Bruder Wilhelm zur Arbeit in den Wald.
Wir als Anfänger wurden in verschiedene Brigaden eingegliedert. Ich kam in eine Brigade, welche aus acht Frauen und dem Leiter Iwan Födorowitsch Korschunski bestand. Zwei Monate lang fällten wir Bäume, hackten Äste ab, verarbeiteten das Holz und stapelten es hoch, damit es im Schnee nicht verloren ginge. Erst nach getaner Arbeit gab es eine warme Abendmahlzeit.
Der Winter wurde immer kälter und der Schnee fiel ununterbrochen. Eines Tages sank die Temperaturmarke sogar unter Minus 40 Grad, was uns die Arbeit enorm erschwerte. Unsere Vorräte an Trockenbrot, die Großmutter für schlechte Tage angelegt hatte, waren inzwischen komplett verbraucht.
Am 1. Januar 1946 ging unsere Probezeit zu Ende. Unser Leiter las uns unsere neuen Rechte und Pflichten vor. Nach diesem Vortrag musste jeder erneut Unterschrift leisten. Diesmal bestätigten wir die Kenntnisnahme, dass von nun an jeder einzelne von uns für sich selbst verantwortlich war. Ab diesem Zeitpunkt waren wir offiziell Holzfäller und mussten als ehemalige Feinde der Sowjetunion unter der Aufsicht der Miliz zehn Jahre lang im Wald abarbeiten.
Mein kleiner, inzwischen zehnjährige, Bruder Johann bekam einen Platz im Internat. Dabei handelte es sich jedoch nur um eine Baracke, in der Kinder in Johanns Alter die ganze Woche verbrachten und nur am Sonntag die Eltern zu Hause besuchen durften. Wilhelm ging zur Schule und erhielt von da an auch Brotwertmarken, welche man ab dem 1. Januar 1946 anstelle von Brot erhielt. Kinder, die sich weigerten die Schule zu besuchen, bekamen nichts. So begannen unser selbständiges Leben und die Hungersnot.
Für die Arbeit wurden wir nicht mit Geld, sondern mit Brotwertmarken entloht. Daher mussten wir unsere Wertmarken verkaufen um uns andere lebensnotwendige Produkte kaufen zu können. Ein Kilogramm Brot ohne Wertmarken, kostete 150 Rubel. Mit den entsprechenden Wertmarken für ein Kilogramm Brot, zahlte man aber nur 1,60 Rubel. In der Kantine gab es wie immer nur die übliche Suppe aus Salzwasser und etwas Fisch, so dass die Brotwertmarken sehr beliebt waren. Die Arbeiter in den Kolchosen bekamen überhaupt kein Brot, sie wurden mit Kartoffeln bezahlt. Brot erwarben sie bei uns. Wir verkauften monatlich acht Brotwertmarken zu insgesamt 300 Rubel und mussten daher fast jeden zweiten Tag ohne Brot auskommen. An den Tauschständen war es uns erst am frühen Abend gestattet Brot für den darauf folgenden Tag abzuholen. Das schränkte unsere Handelsmöglichkeiten enorm ein.
Wichtige Vorräte [top]
Aufgrund des Nahrungsmangels, starben immer mehr Leute. Damit wir nicht verhungerten, hörte Mutter auf zu arbeiten. Trotz des strickten Verbots, zog sie von einem Dorf zum anderen und bettelte um Nahrung oder arbeitete bei fremden Leuten. Als sie eines Tage heim kam, erzählte sie uns, dass sie von den Leuten, die selber nicht genug zu Essen hatten, mehr bekam, als von den Reichen. Für alle Menschen hier, waren es sehr schwere Zeiten, die es zu überleben galt.
Meine Mutter blieb regelmäßig mehrere Wochen, manchmal auch einen Monat fort. Bei ihrer Rückkehr brachte sie immer etwas trockenes Brot oder Obst mit. Da sie nicht mehr arbeitete, gab es für sie auch kein Brot. Deswegen verließ sie uns jedes Mal gleich am nächsten Morgen, damit für uns mehr Essen übrig blieb. Inzwischen arbeitete nur ich als Holzfäller. Großmutter und Wilhelm bekamen Wolle, aus der sie Handschuhe stricken mussten. Im Gegenzug dafür gab es pro fertiges Paar Handschuhe zusätzlich 100 Gramm Brot. Auf diese Weise überlebten wir den Winter.
Im Frühling aßen wir Brennnessel, wilde Zwiebeln, Knoblauch und Pilze aus dem Wald. Auch brachte Mutter oft Kartoffelschalen zum Kochen mit, was für uns zu dieser Zeit ein wahres Festmahl darstellte. Einmal hatte sie sogar einige kleine Kartoffeln dabei. Wir Kinder freuten uns auf eine leckere Suppe. Doch Großmutter erklärte uns, dass es im Wald während des Frühlings genug essbarer Kräuter gäbe, die uns alle sattmachen würden. Sie schlug vor die Kartoffeln anzupflanzen, damit wir später eine größere Menge ernten konnten. Großmutter bat die Nachbarin um eine Schaufel. Dann begleitete sie Wilhelm in die Nähe des Flusses, an dessen Ufern die Erde einen besonders fruchtbaren Eindruck machte. An diesem sonnigen Tag suchten die Beiden ein schönes Plätzchen und begannen damit die Erde umzugraben und das Unkraut zu jäten. Der ganze Boden war mit störrischen Wurzeln überseht, dementsprechend schleppend ging die Arbeit voran. Die vorbeigehende Leute lachten uns aus. Allein die Nachbarin machte uns Mut und unterstützte uns nach allen Kräften in unserem Vorhaben. Sie stimmte uns zu, dass die Erde an der Stelle besonders gut wäre und die angebauten Früchte mit Sicherheit prächtig gedeihen würden. Sie war davon so überzeugt, dass sie uns zusätzlich noch einige Kürbissamen und weitere Kartoffeln schenkte.
Bald sollte ich meinen ersten Lohn ausgezahlt bekommen. Stolze 150 Rubel hatte ich innerhalb von sieben Monaten verdient. Inzwischen hatte der Rubel eine Aufwertung erhalten. Daher war der neue Rubel um einiges mehr Wert als der alte. (Leider erinnere ich mich nicht mehr an den damaligen Kurswert.) Großmutter freute sich über das Geld. Von nun an würden wir von unserem eigenen Geld leben können und müssten nicht mehr die Brotmarken verkaufen. Doch schon bei der Auszahlung stellte sich heraus, dass die Steuer einen Großteil des Lohnes verschlang. Dazu kamen lebensnotwendige Anschaffungen wie geflochtene Schuhe (Lapti), Lappen für den Sockenersatz, ein neues Beil und eine neue scharfe Säge. Auch die Miete für das Wohnen in den Baracken und der Kindergartenplatz von Johann kosteten Geld. Nachdem mir bewusst wurde, dass so gut wie nichts von meinem hart verdientem Lohn übrig blieb, war ich sichtlich niedergeschlagen. Der Kommentar eines überheblichen Angestellten der Administration lautete daraufhin, dass wenn einem das Geld hier nicht reiche, solle man es sich als Deutscher doch beim Hitler holen. Vor Wut kochend schlich ich mit gesenktem Kopf nach Hause.
Mutters Verschwinden [top]
Die Monate vergingen. Jeden Tag nach der Arbeit durchstreiften wir den Wald, sammelten Pilze, wilde Zwiebeln, Knoblauch, Brennnessel und andere essbare Kräuter. Großmutter kannte sich mit dem Überleben sehr gut aus, sie hatte schon drei Hungersnöte hinter sich. Im Sommer pflegten wir unermüdlich den Garten, wo alles sehr gut gedieh. Wilhelm bereute schon, dass wir nur so wenig angebaut hatten. Er ging ständig zum Angeln und brachte oft kleine Fische mit. Da sein Angelseil nur aus Wolle bestand, war es sehr schwach und riss fortwährend.
Diesmal blieb Mutter ungewöhnlich lange weg. Wir befürchteten schon, dass sie in die Hände der Miliz fiel. Eines Tages kam sie jedoch zurück und erzählte uns Folgendes: Sie war sehr weit gelaufen und hatte bei einer alter Frau Arbeit gefunden - sie sollte den Garten der Frau bepflanzen. Als sie mit der Arbeit fertig war, wurde sie plötzlich schwer krank und die alte Frau pflegte sie einen ganzen Monat lang, bis sie wieder gesund wurde. Seit diesem Erlebnis blieb Mutter daheim und fing wieder an mit mir im Wald zu arbeiten. In den Ferien half uns Wilhelm Zweige abhacken. Er pflegte auch den Garten, sammelte Beeren und Pilze und half uns während den freien Tagen wo immer er nur konnte.
Großmutter war wie immer unsere Köchin. Sie kümmerte sich liebevoll um die Zubereitung der Mahlzeiten und versuchte aus den wenigen Zutaten, die uns zur Verfügung standen, jedes Mal etwas schmackhaftes zuzubereiten.
Um für den kommenden Winter besser gerüstet zu sein, legten wir wichtige Vorräte an. Wir trockneten am Ofen Pilze und Kräuter und lagerten diese ein. Auch Sonntags waren wir von früh bis spät in die Nacht unterwegs und sammelten fleißig unsere Vorräte. Inzwischen waren auch unsere Kartoffeln reif. Zusammen mit Wilhelms Beeren und Pilzen hatten wir nun ein staatliches Nahrungsdepot angelegt. Wilhelm freute sich und war fest davon überzeugt, dass wir den Winter 1946/47 nicht hungern müssten.
Leider wurde er enttäuscht, denn im schon Herbst wurde es winterlich kalt. Der erste Schnee kam Ende September und taute nicht wieder ab. Unsere Nahrungsvorräte reichten nur bis zum 24. Dezember. Am Weihnachtsabend holten wir uns aus der Kantine Krautsuppe sowie 1,8 Kilogramm Brot und fügten dem Festmahl unsere letzten getrockneten Pilze hinzu.
Nach dem Abendessen meinte Großmutter, dass der Feiertag nun vorbei wäre. Zum Kochen hätten wir nichts mehr, es wäre nur noch Tee übrig und eben das Brot, das wir jeden Abend nach der Arbeit bekamen.
Johann war immer noch im Internat. Als er uns an Wochenenden besuchte, lehrte Oma ihn Handschuhe stricken. Auch Wilhelm unterstützte uns, indem er nach der Schule Lapti aus Baumrinde flocht. Die nötigen Zweige brachte ich nach der Arbeit aus dem Wald. Da die Zweige im Winter gefroren waren, legten wir sie auf den Herd und warteten bis sie auftauten. Dann wurde die Rinde abgezogen und die Schuhe geflochten. Unser Herd wurde Tag und Nacht geschürt.
Großmutters Todestag [top]
Auch den Winter verhungerten unzählige Menschen. Dieses Mal befand sich auch Großmutter unter ihnen. Der 16. März 1947 sollte ihr Todestag werden. Unser Vorarbeiter stellte uns zwei Männer zur Verfügung, die einen Sarg für die Großmutter bauen sollten. Während dessen hoben Tante Otilja und ich das Grab aus. Zuerst beförderten wir einen Meter Schnee zur Seite. Wir hatten Glück, denn die darunter liegende Erde war nicht gefroren. Da der Boden aus gelbem Sand bestand, fiel uns das Graben leicht. Trotzdem dauerte es bis spät in den Abend diese Grube auszuheben. Am nächsten Tag sollte das Begräbnis stattfinden. Doch Nachts hatte es wieder so sehr geschneit, dass wir das Grab am darauffolgenden Morgen erneut vom Schnee säubern mussten.
Bis der Sarg kam, war Großmutters Körper schon steifgefroren. Als wir sie in den Holzsarg legten, stellten wir fest, dass der Sargdeckel sich nicht schließen ließ. Der Sarg war zwei Zentimeter zu niedrig bebaut und Großmutters Nase behinderte das Zunageln des Kastens. Da der Leichnam gefroren war und somit das Drehen ihres Kopfes unmöglich machte, holte der Schreiner kurzerhand mit seinem Hammer aus und schlug Großmutter die Nasenspitze ab. Dann befestigte er rasch den Deckel, lud den Sarg auf den Schlitten und fuhr mit uns in Richtung des Grabes.
Dort angekommen, sahen wir, dass das Grab ein weiteres Mal vollständig vom Schnee bedeckt worden war. Auch die von uns ausgehobene Erde war in der Zwischenzeit festgefroren. Wir benötigten eine weitere Stunde um den Schnee zu entfernen und Großmutter behelfsmäßig zu begraben. Erst einige Wochen später, nach der Frostperiode, kehrte ich nochmals an diese Stelle zurück, um die Arbeit zu beenden, indem ich die restliche Erde auf das Grab schaufelte.
Bessere Zeiten [top]
Eines Tages entschloss sich Mutter erneut auf Wanderschaft zu gehen um außerhalb unserer Ortschaft nach erträglicheren Jobs zu suchen. Von da an waren wir drei Brüder regelmäßig alleine zuhause. Wilhelm brach die Schule ab und ging arbeiten. Er schippte Schnee von den Straßen und unterstützte uns so mit etwas Geld.
Anfang Mai taute der Schnee allmählich. In diesem Monat kam Mutter wieder zurück und hatte Essen bei sich. Sie versorgte uns damit, stopfte unsere Kleidung und brach erneut auf.
Für Schneeschipper gab es unterdessen keine Arbeit mehr. So kam Wilhelm mit mir in den Wald, um Bäume zu fällen. Wieder tauschten wir Brot gegen Kartoffeln und pflanzten diese wie im Jahr zuvor in unserem Garten ein. Dort bauten wir eine Überdachung aus Zweigen und übernachteten jede Nacht draußen um die Diebe abzuschrecken.
Im Sommer kehrte Mutter zurück und brachte etwas Mehl, Salz und Kartoffeln mit. All das hatte sie sich während der Arbeit bei fremden Menschen verdient. Wir haben uns sehr gefreut, als Mutter verkündete, dass sie nun wieder zu Hause bei uns bleiben würde. Von da an machten wir uns zu Dritt an die Arbeit im Wald.
Das Leben hatte sich wieder etwas gebessert. Für das Essen in der Kantine wurde das Geld nicht mehr automatisch vom Lohn abgezogen. Wir konnten nun selber entscheiden, ob wir dort aßen oder uns selbständig Lebensmittel kauften und eigenes Essen zubereiteten.
Wir erhielten auch neue Arbeitskleider für den Sommer. Schuhe brauchten wir vorerst keine, denn es war warm genug um bedenkenlos Barfuss laufen und arbeiten zu können. Selbstverständlich verbrachten wir auch diesen Sommer damit Vorräte für den Winter anzulegen.
Im September 1947 mussten wir erneut umziehen. Wir bekamen eine achtzehn Quadratmeter große Wohnung, inklusive eines hervorragend erhaltenen alten Ziegelofens. Die Wohnung lag zwei Kilometer von den alten Baracken entfernt. An sich war der Wohnungswechsel eine erfreuliche Nachricht, leider mussten wir die Wohnung mit einer anderen Familie teilen. Die Familie hieß Schmitt und bestand aus fünf Leuten. So umfasste unsere Wohngemeinschaft insgesamt neun Menschen. Ein Jahr später kam eine weitere Familie mit dem Namen Ziller hinzu. Sie bestand aus der Mutter und drei Kindern.
Mein kleinster Bruder wohnte seit dem Umzug auch bei uns und besuchte inzwischen die erste Klasse. Im Laufe der folgenden Monate wurde um uns herum fleißig gebaut, so dass wir bald eine eigenen Schule, einen Kaufladen und sechzehn neue Zweizimmerholzhäuschen hatten.
Ende 1948 wurden die Lebensmittelwertmarken für Brot und andere Nahrungsmittel abgeschafft. Pro Tag erhielten wir zwei Kilo Gerste, sowie einen Kilo gesalzenen Fisch. Ein Kilo Brot kostete 1,60 Rubel. Auch im Laden gab es zwar keine anderen Lebensmitteln außer diesen, doch durch diese neue Regelung musste wenigstens niemand mehr Hunger leiden.
Für unsere Verhältnisse verdienten wir inzwischen relativ gut. Unser Lohn betrug zwischen fünf und acht Rubel pro Tag.
Im Herbst 1948 bekamen die Arbeiter zum ersten Mal warme Winterkleidung. Diese bestand aus einer wattierten Jacke und einem paar Hosen, Filzstiefel (dort Walenki genannt) und Handschuhen. Das Leben wurde durch diese Reformen angenehmer und sogar die Arbeit fing an Spaß zu machen.
Im Jahr 1949 wurde Mutter krank und konnte nicht mehr arbeiten. Obwohl sie sich bald wieder besser fühlte, bestanden meine Brüder und ich darauf, dass sie daheim bliebe. Von da an führte sie den Haushalt, während wir im Wald das Geld verdienten.
Im Frühling 1951 konzentrierten wir uns wiederum auf den Garten. Wir errichteten einen Zaun um das Grundstück und bauten eine kleine Scheune daneben. Wir pflanzten Kartoffeln und weiteres Gemüse an. Bald erwarben wir eine Ziege und einige Hühner.
Plötzlich ging es Mutter wieder schlecht. Sie besuchte einen Arzt in der Stadt und dieser beruhigte sie mit der Aussage, dass es ihr bis zum Sommer wieder besser gehen würde. Er hatte Recht, im Sommer fühlte sie sich tatsächlich um einiges wohler. Sie lachte mehr und freute sich, dass wir nun endlich die Hungersnot besiegt hatten.
Mutters Tod [top]
Im Sommer erhielt Wilhelm einen Kurs als LKW-Fahrer genehmigt und musste deswegen in die Stadt Iwanow, 700 Kilometer von uns entfernt, reisen. Mutter war merklich traurig über den Abschied, freute sich aber gleichzeitig für ihren Sohn, weil er danach eine gute Arbeit bekommen würde.
Der Sommer zog an uns vorbei und ging allmählich in den Herbst über. Im September ging es Mutter wieder schlechter. Sie ging erneut zum Arzt, auch diesmal meinte dieser, dass wir einfach abwarten sollten, es würde bald wieder eine Besserung eintreten. In der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober brach Mutter zusammen. Sie musste ins Krankenhaus gebracht werden, welches sieben Kilometer entfernt lag. Ich ging zu unserem Vorgesetzten und bat ihn um ein Auto samt Fahrer. Dies wurde bewilligt und wir fuhren zur unserer Wohnung. Dort halfen wir Mutter ins Auto. Eine Nachbarin erklärte sich bereit Mutter zu begleiten und der Wagen fuhr los. Ich musste noch einige Dinge erledigen und kam dann sofort mit dem Fahrrad nach.
Im Krankenhaus empfing mich eine Krankenschwester und zeigte mir wo ich Mutter finden konnte. Unserer Nachbarin war immer noch bei ihr. Ich bedankte mich für ihre Hilfe und die Nachbarin fuhr wieder nach hause. Mutter saß im Wartezimmer und wartete auf einen Arzt. Sie bat mich um ein Glas Wasser, weil sie sich nach der holprigen Autofahrt unwohl fühlte. Dann wurde es ihr schwindelig und sie wollte sich kurz hinlegen. Die Krankenschwester wies ihr einen Platz in einem der Patientenzimmer zu. Mutter legte sich auf das Bett, doch bis der Arzt kam, verstarb sie.
Ich erhielt einen Todesschein ausgestellt, in dem stand, dass Natalja Lange - unsere wundervolle Mutter - am 25. Oktober, im Alter von 43 Jahren, an Herzversagen verstorben war.
Betäubt radelte ich nach Hause und ging erneut zum Vorgesetzten, um ein weiteres Mal um ein Auto zu bitten. Leider waren zu diesem Zeitpunkt alle Autos besetzt, so dass er mir stattdessen nur mit einer Kutsche und einem Pferd aushelfen konnte.
Der Vater von Jakob Hild - meinem späteren Schwager - erklärte sich bereit mir zu helfen und fuhr mit mir ins Krankenhaus. Wir häuften Heu auf die Ladefläche der Kutsche und legten behutsam meine Mutter darauf. Während Jakobs Vater der Kutsche zu unserer Wohnung steuerte, fuhr ich mit dem Fahrrad zu den Zimmerleuten und bestellte einen Sarg. Zu Hause angekommen, legten wir Mutter auf ihr Bett. Anschließend kamen einige Frauen in unsere Stube und wuschen Mutter, kleideten sie an und legten sie in den Sarg.
Am nächsten Tag bekam ich vom Vorgesetztem einen Angestellten zur Verfügung gestellt, der anstatt im Wald zu arbeiten, mir beim Begräbnis zur Hand gehen sollte. Zusammen brachen wir zum Friedhof auf. Weil der Boden gefroren war, legten wir erst Feuer und mussten warten bis die Erde aufgetaut war. Danach schaufelten wir eine Grube, gingen heim, spannen einen Ochsen an die Kutsche, legten den Sarg darauf und fuhren zum frisch ausgehobenen Grab zurück. Es kamen noch einige Frauen mit, die unsere Mutter sehr gut gekannt und mit ihr gearbeitet hatten. Sie weinten bittere Tränen und beteten für sie. Nachdem sich alle von ihr verabschiedet hatten, ließen wir den Sarg in das feuchte Grab herab. Die Trauergäste verabschiedeten sich. Wir schütteten das Grab zu und stellten ein Kreuz auf. Somit war die Beerdigung abgeschlossen. Nachts schneite es und der dichte Schnee verdeckte alle Spuren. So, als wäre nichts geschehen.
Am nächstem Tag nachdem Frühstück musste ich wie gewohnt zur Arbeit und Johann wieder zur Schule gehen. Nun lebten wir zu zweit.
Im November, einige Wochen nach Mutters Beerdigung, kam endlich Wilhelm zurück. Zu dritt kümmerten wir uns um alles. Wir führten den Haushalt und pflegten den Garten. Weil Johann jeden Tag als erster daheim war, war er für das Abendbrot zuständig. So ging unser Leben weiter.
Die Familie wächst [top]
Am 7. November 1952 heiratete ich Anna Buscholl. Von 1945 an, als sie in Lodz (Polen) zu uns gestoßen war, hatte sie ähnliches wie wir erlebt. Lange Zeit reisten wir gemeinsam in einer Gruppe und arbeiteten sogar im gleichen Waldstück. Trotzdem lernten wir uns erst sehr spät kennen. 1948 in Safronowa Poschnja kamen wir während der Waldarbeit in Kontakt.
Nach unserer Heirat, ist meine Frau zu mir gezogen. Wir konnten uns kein eigenes Heim leisten, deshalb lebten wir etwa zwei Jahre lang mit meinen Brüdern und einer weiteren Familie von vier Menschen, in einem Häuschen zusammen.
Am 15. August 1953 wurde mein Sohn Waldemar geboren. Danach erhielten wir in einer anderen Baracke ein eigenes kleines Zimmer. Dieses umfasste etwa acht Quadratmeter. Auch einen Herd hatten wir dort zur Verfügung. Meine zwei Brüder lebten weiterhin in dem vorherigen Haus.
Am 7. März 1955 kam meine Tochter Erika auf die Welt. Bevor meine zweite Tochter, Valentina, am 05. Oktober 1956 geboren wurde, bekamen wir von der Stadt ein neues Haus zugeteilt. Dieses lag etwa 1,5 Kilometer entfernt. Wohnen konnten darin zwei Familien. Jede Familie hatte etwa 20 Quadratmeter Wohnfläche für sich. Jede Stube umfasste eine Küche und einen Ofen zum Heizen. Eine Wiege für unsere Kinder habe ich selber erbaut.
Ich arbeitete weiterhin als Holzfäller. Meine Frau, hütete nach der Geburt Waldemars die Kinder und bewirtschaftete unseren großen eigenen Garten. Nun gab es nichts mehr zu beklagen, denn die Tomaten, das Kraut, die Karotten und die Bohnen aus dem Garten genügten der gesamten Familie, um satt zu werden.
Freiheit [top]
Weitere Jahre vergingen und die Sperrfrist für das Verlassen des Arbeitslagers lief ab. Nun erhielten wir die Erlaubnis dorthin zu gehen, wo wir auch immer hin wollten.
Im Jahr 1956 beschlossen meine zwei Brüder nach Kasachstan auszuwandern. Auch mit Anna und Sascha Lange, hatten wir nur noch Briefkontakt. Nach dem Tode unserer Großmutter sind sie schon 1947 nach Kasachstan geflohen.
Ich und meine eigene kleine Familie zogen am 19. Mai 1958 nach Usbekistan. Vier Tage später fanden wir uns in der Stadt Tschirtschik wieder. Im selben Jahr fand ich auf dem Bau Arbeit. Wir bauten Wohnhäuser. Einmal errichteten wir sogar eine riesige Werkhalle. In dieser wurden später Maschinen für die Arbeit auf Baumwohlfeldern hergestellt. Dies war sehr zum Vorteil für unser Land, denn Baumwolle gehörte damals zu Usbekistans größten Exportgüter. In dieser Werkhalle wurden auch verschiedene Drei- und Vierradtraktoren, sowie Anhänger von drei bis vier Tonnen Fassungsvermögen fabriziert.
Nach dem Krieg wollten die meisten Russlandsdeutschen wieder zurück in ihre ursprüngliche Heimat. Die Russen aber, erlaubten nur alten Leuten die Ausreise. Die Jungen dagegen, wurde als Arbeitskräfte benötigt und stießen bei jedem Antrag auf Absagen.
Christian Jesser war der erste von uns, dem im Jahre 1971 eine Ausreise gewährt wurde. Nach mehrmaliger Antragstellung, durften 1988 auch wir Russland verlassen.
Von der usbekischen Hauptstadt Taschkent aus flogen wir nach Moskau, um dann mit einem weitern Flieger direkt nach Deutschland zu reisen. Am 27. Mai 1988 kamen wir in Frankfurt an und wurden zehn Tage lang im Aussiedlerlager Friedland untergebracht.
Im Juli zogen wir ein letztes Mal in unserem Leben um. Zu unserer neuen und endgültigen Heimat haben wir die Stadt Würzburg auserwählt. Meine Kinder kamen zwei Monate später nach.
Nun lebe ich hier mit meiner Frau, meinen Kindern und Enkelkindern und bin sehr froh, nach diesen schweren Zeiten, nun endlich Ruhe und Frieden gefunden zu haben.
1993, Daniel Lange